Seit dem 20. Januar rückt die türkische Armee gegen das kurdische Kanton Afrin in Syrien vor. Sie nutzt dabei deutsche Kampfpanzer. Christine Buchholz und Frank Renken erklären die Hintergründe des Konflikts und warum die Bundesregierung die Regierung in Ankara bei der Unterdrückung der Kurden unterstützt
Die Reaktion der Bundesregierung auf den türkischen Angriff gegen Afrin war so verlogen wie ihre gesamte Türkei-Politik. Weder Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) noch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerten sich. Es brauchte vier Tage, dann ließen sie die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer in einer Pressekonferenz erklären: »Die Bundesregierung betrachtet die Berichte über die türkische Militärintervention im Nordwesten Syriens mit großer Sorge.« Berlin fordere ein Ende der Kampfhandlungen.
Weder handelt es sich dabei um eine klare Verurteilung des Angriffs, noch fordert die Bundesregierung den sofortigen Rückzug der türkischen Truppen. Stattdessen sprach Demmer von »legitimen türkischen Sicherheitsinteressen an der Grenze zu Syrien«. Das Auswärtige Amt verwies in einer weiteren Stellungnahme darauf, dass die Türkei wiederholt Ziel von Angriffen durch den Islamischen Staat (#IS# ) aus Nordsyrien heraus gewesen sei. Ankara argumentiere deshalb mit seinem »Recht auf Selbstverteidigung«.
Derweil nutzt das syrische Regime die Gelegenheit und setzt seine Bombardierungen in der Provinz Idlib und den östlichen Vororten von Damaskus fort. Die bei Damaskus seit Jahren eingeschlossenen Menschen werden ausgehungert und mit Artillerie beschossen. In Idlib sind in den letzten vier Wochen nach UN-Angaben rund 200.000 Menschen ein weiteres Mal geflohen.
Tatsache ist: Der IS ist militärisch geschlagen und existiert in Afrin nicht. Der türkische Einmarsch richtet sich erklärtermaßen gegen die kurdische Herrschaft in diesem Gebiet. Für Präsident Recep Tayyip Erdogan ist der Kampf gegen die in Syrien operierenden kurdischen »Volksverteidigungskräfte« (YPG) nur die Fortsetzung des Krieges, den die türkische Armee im Innern gegen die PKK führt. Daraus macht Ankara auch keinen Hehl. Dennoch druckst die Bundesregierung herum und tut so, als ginge es gar nicht um die Kurdinnen und Kurden.
Der Grund ist einfach: Es waren die YPG, die maßgeblich den IS in Syrien geschlagen haben – und dennoch hat die Bundesregierung die YPG und ihren politischen Arm, die »Partei der demokratischen Union« (PYD) im letzten Jahr verboten und zu Terrororganisationen erklärt. Die Bundesregierung will schlicht und ergreifend nicht zugeben, dass sie die Türkei bei der Verfolgung der kurdischen Minderheit unterstützt.
Deutschland hilft bei Unterdrückung
Diese Unterstützung hat viele Facetten. Innerhalb der Türkei verschärft Erdogan im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung auch die Repression gegen die türkische Linke. Mehr als 300 Personen wurden binnen einer Woche verhaftet, nur weil sie es wagten, den Angriff auf Afrin zu kritisieren. Aber die Bundesregierung setzt ihre sogenannte »Sicherheitspartnerschaft« mit den türkischen Geheimdiensten unbeirrt fort.
Am deutlichsten spiegelt sich die deutsche Unterstützung bei der Unterdrückung in der Ausrüstung der türkischen Armee wider. Bereits in den 90er-Jahren lieferte Deutschland ausrangiertes Material der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR, mit dem die türkische Armee einen mörderischen Feldzug gegen die PKK im Osten des Landes führte. Sie zerstörte dabei zahllose kurdische Dörfer. Millionen wurden in die großen Städte des Landes vertrieben.
In den letzten beiden Jahrzehnten intensivierte Deutschland die militärische Zusammenarbeit. Seit 2005 wurden 354 Kampfpanzer vom Typ Leopard-2 geliefert – also genau jene Panzer, mit denen die türkische Armee nun in Afrin vorrückt. Und obwohl seit 2015 Ankara den Krieg gegen die PKK neu entfacht hat, genehmigte die Bundesregierung in den vergangenen beiden Jahren Rüstungsexporte im Wert von 118 Millionen Euro in die Türkei.
Die Geschäfte mit der Türkei sind nicht nur profitabel. Sie dienen auch einem politischen Zweck. Die Bundesregierung ist, wie alle anderen Groß- und Mittelmächte, an der Stabilität der Staatsgrenzen und der Staatsordnungen im Mittleren Osten interessiert, ganz gleich wie repressiv diese sind. Deshalb ist die Bundesregierung mit nahezu allen Regierungen in der Region auch über Rüstungsgeschäfte, Militärausbildung und Zusammenarbeit auf geheimdienstlicher Ebene verbunden. Dies betrifft im besonderen Maße die Türkei als Nato-Mitglied, die zudem seit dem Abkommen zwischen Merkel und Erdogan verhindert, dass Geflüchtete in die EU weiterreisen können. Überdies hat die Bundesregierung den Kampf gegen den IS zum Vorwand genommen, um die Bundeswehr dauerhaft im Mittleren Osten zu stationieren – erst im türkischen Incirlik, nun im jordanischen Al-Asraq.
Der kurdische Befreiungskampf stellt diese Ordnung in Frage, die auf Unterdrückung basiert. Deshalb ist es richtig, dass die Linke in Deutschland und international sich unzweideutig im Konflikt um Afrin und die anderen syrisch-kurdischen Gebiete auf die Seite des kurdischen Widerstands stellt.
Assad und die Kurden
Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurdinnen und Kurden sind eine Reaktion auf ihre nationale Unterdrückung. Ihr Siedlungsgebiet wurde vor rund hundert Jahren von Großbritannien und Frankreich, den Siegermächten des Ersten Weltkrieges, auf vier Staaten aufgeteilt: Türkei, Syrien, Irak und Iran. Nicht nur in der Türkei, in allen diesen Staaten wurden die jeweilige kurdische Minderheit kulturell unterdrückt und ihre Organisationen politisch verfolgt.
Das Regime Assads, das in Syrien seit nahezu einem halben Jahrhundert herrscht, macht diesbezüglich keinen Unterschied. Im Jahr 2004 entzündete sich die Frustration über Armut und Repression in der kurdisch geprägten Stadt Kamischli in heftigen Massenprotesten. Die Unruhen weiteten sich auch auf andere Städte im Nordosten Syriens aus, wie Amude, Ras al-Ain und Deir as-Sur. Die syrische Armee konnte den kurdischen Aufstand nur durch brutale Gewaltanwendung brechen. Zwischen 30 und 100 Personen wurden getötet. Die kurdische YPG, die heute in Afrin von der türkischen Armee angegriffen wird, ist nach 2004 in Reaktion auf diese Gewalt entstanden – als ein Akt des Widerstands gegen das Assad-Regime.
Um die eigene Herrschaft zu stabilisieren, versuchte das Assad-Regime von Anfang an, kurdische und arabische Bevölkerungsteile gegeneinander auszuspielen. Zum Teil mit Erfolg. 2004 konnte das Regime Unterstützung unter einigen arabischen Stämmen gewinnen, die der Armee bei der Niederschlagung des Aufstandes halfen.
Doch diese Teile-und-Herrsche-Politik funktionierte nicht immer. Im März 2011 brach in Syrien eine Revolution aus, die schließlich Millionen erfasste. Die Forderungen waren Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit. Dem Regime gelang es nicht, die Bewegung mit militärischer Gewalt zu stoppen. Einer der Gründe war das weitverbreitete Gefühl der Einigkeit in der Bewegung – über ethnische und religiöse Grenzen hinweg. Zum Höhepunkt der Bewegung waren auf den Protestplakaten in kurdischen Städten wie Kamischli oder Amude Solidaritätsbekundungen mit den Demonstrationen in arabischen Orten wie Deraa, Homs oder Aleppo zu lesen – und umgekehrt.
In den Orten, in denen Assad-Regime zusammenbrach, blühte das politische und kulturelle Leben auf. Hunderte sogenannter Lokaler Koordinierungsräte organisierten die Bewegung, unabhängig von der jeweils vorherrschenden religiösen oder ethnischen Prägung. Die Errichtung dreier faktisch unabhängiger kurdischer Kantone im Norden des Landes, darunter Afrin, war ebenfalls Ergebnis der syrischen Revolution. Das Regime zog die eigenen Truppen aus den kurdischen Gebieten zurück und konzentrierte sich ganz auf die Bekämpfung der von der »Freien Syrischen Armee« (FSA) gehalten Gebiete im Westen – insbesondere in Homs und Hama, den Vorstädten von Damaskus, sowie Aleppo.
Unter dem Namen Rojava – kurdisch für Westen – entstanden auch in den kurdischen Kantonen neue Freiheiten. Doch der Rückzug der Truppen des Assad-Regimes aus dem kurdischen Gebiet war nicht gleichbedeutend mit der Aufgabe seiner Herrschaftsambitionen. Der Rückzug war aus seiner Sicht notwendig, um die Überdehnung der eigenen Truppen zu reduzieren, die aufgrund einer Welle von Desertionen unter akuter Auszehrung litten. Er trug dazu bei, neue kurdisch-arabische Bruchlinien herbeizuführen, um die Revolution zu schwächen und Assads Gegner zu spalten.
Erdogan greift in den syrischen Bürgerkrieg ein
Die Türkei spielte in diesem Kalkül von Beginn an eine wichtige Rolle. Denn bei allen Schwankungen gab es in der türkischen Außenpolitik immer eine Konstante: Die Verhinderung eines unabhängigen kurdischen Nationalstaates in der unmittelbaren Nachbarschaft. Nun hat die PYD, die seit 2013 die politische Vorherrschaft über Rojava erobern konnte, niemals die formelle Unabhängigkeit gefordert. Doch aus Sicht der türkischen Regierung ist das zweitrangig. Denn ganz gleich, ob sich Rojava als autonom, konföderiert oder wie auch immer definiert: De facto ist im Norden Syriens ein großes unabhängiges kurdisches Gebiet entstanden, mit einer enormen Ausstrahlung auf die kurdische Bevölkerung in der Türkei.
Die türkische Regierung unter Präsident Erdogan begann, einen geheimen Stellvertreterkrieg gegen Rojava zu organisieren. Einzelne syrische Gruppen, die sich arabisch-sunnitisch definierten und aus reichen Golfstaaten unterstützt wurden, griffen von türkischem Territorium kommend ab Mitte 2013 Ortschaften in Rojava militärisch an. Diese Attacken konnten die Herausbildung einer kurdisch-geprägten Föderation aber nicht verhindern.
Der IS veränderte im Jahr 2014 die Kräftekonstellation. Der IS entstand ursprünglich nicht in Syrien, sondern im benachbarten Irak, als Reaktion auf die US-amerikanische Besatzung nach 2003. Er war ein Produkt der US-amerikanischen Politik im Irak, die Ethnien und Konfessionen systematisch gegeneinander ausspielte. Der IS baute die eigene Organisation auf, indem er die Diskriminierung der Sunniten im Irak nutzte, um den Widerstand gegen die US-Armee zu einem Bürgerkrieg gegen alle Schiiten und andere nicht-sunnitische Glaubensrichtungen zu machen, zum Beispiel durch die Platzierung von Bomben auf Marktplätzen oder schiitischen Heiligtümern.
Der IS nutzte den sich entwickelnden Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien, um sich auch dort zu verankern. 2014 eroberte er die Kontrolle über Städte wie Rakka. Überall, wo der IS in Syrien die Macht erobern konnte, unterdrückte er die von der revolutionären Bewegung errungenen Freiheiten, und begann christliche, schiitische und andere nicht-sunnitische Glaubensrichtungen zu verfolgen. Das Vordringen des IS in Syrien führte zu einem Krieg mit den kurdisch befreiten Gebieten im Norden Syriens.
Das heißt aber nicht, dass der IS als verlängerter Arm Ankaras agierte. Er schreckte nicht davor zurück, bei seinem Vormarsch 2014 türkische Geiseln zu nehmen. Später legte er Bomben in türkischen Städten. Die Regierung in Ankara wurde auch Teil der US-geführten Koalition gegen den IS. Doch zugleich sah sie mit klammheimlicher Freude, dass der IS zu einer lebensgefährlichen Bedrohung für die gesamte kurdische Befreiungsbewegung in Syrien wurde. Ankara ließ damals zu, dass Tausende internationale Kombattanten die türkisch-syrische Grenze überquerten, um den IS zu unterstützen.
Ankaras Hoffnung, der IS würde Rojava zerschlagen, erfüllte sich nicht. Im Februar 2015 verlor der IS erst die Schlacht um Kobane, danach eroberten die YPG immer neue Städte im Norden Syriens. Für Erdogan und das türkische Militär ein Albtraumszenario. Nicht nur, dass die YPG mit der PKK eng verbunden sind. Parallel dazu entwickelte sich innerhalb der türkischen Grenzen eine kurdische Massenbewegung. Die HDP kam als erste pro-kurdische Partei bei den Wahlen im Sommer 2015 deutlich über die Zehnprozenthürde.
Dies war der entscheidende Wendepunkt. Erdogan brach die Friedensgespräche mit dem inhaftierten PKK-Führer Öcalan ab und entfesselte von neuem den Krieg gegen die kurdische Guerilla im eigenen Land. Türkisches Militär umstellte und bombardierte Wohnviertel in kurdischen Städten. Nach dem gescheiterten Putsch 2016 nutzte er die Möglichkeit, um die HDP massenhaft zu verfolgen. Der Angriff gegen Afrin auf der anderen Seite der türkisch-syrischen Grenze ist nur die nächste Etappe in dem Versuch, die kurdische Bewegung militärisch zu zerschlagen.
Spaltung nach Konfessionen und Ethnien
Der Sieg in der Schlacht von Kobane 2014/15 war auch der Wendepunkt im Kampf gegen den IS. In der Wahrnehmung vieler Linker im Westen war dies eine rein kurdische Angelegenheit. Das stimmt nicht. Die YPG trugen zwar die Hauptlast. Aber gemeinsam mit ihnen kämpften unter dem Dach des Burkan al-Furat aus der FSA hervorgegangene arabische Kräfte. Weiter im Westen hielten zeitgleich andere Teile der FSA den IS-Vormarsch erfolgreich vor Marea auf. Zuvor war der IS im Winter 2013/14 aus zahlreichen Positionen im Nordwesten durch einen gemeinsamen Aufstand vieler meist arabisch-geprägter Gruppen verdrängt worden. Heute brüstet sich Ankara, dass 25.000 Truppen der FSA den Vorstoß der türkischen Armee gegen die kurdische Enklave Afrin unterstützen würden.
Wie geht das zusammen?
Tatsächlich gibt es die FSA als einheitlich geführte Armee schon lange nicht mehr. FSA ist heute ein Etikett, dass sich eine Vielzahl unterschiedlicher, meist lokal gebundener bewaffneter Gruppen anheften. So, wie es türkische Linke gibt, die unter schwierigen Bedingungen innerhalb der Türkei prinzipienfest gegen den Krieg in Afrin aufstehen, gibt es nach wie vor auch syrische revolutionäre Linke, die sowohl gegen Assad als auch gegen Erdogan stehen.
Ungeachtet dessen spiegelt die Unterstützung der türkischen Armee in Afrin durch arabisch-geprägte Milizen eine Tragik wider, die mit dem Niedergang der Revolution einhergeht. Die Intervention der Groß- und Regionalmächte in Syrien hat eine Dynamik der Spaltung in Konfessionen und Ethnien in Gang gesetzt. Zunächst eilte im Jahr 2013 der Iran dem bedrängten Assad-Regime zu Hilfe. Unter iranischer Führung wurden Tausende schiitische Kämpfer aus dem Irak, Iran und Afghanistan in den Kampf geschickt. Die Intervention der mit dem Iran verbündeten schiitischen Hisbollah aus dem Libanon brachte 2013 die Wende auf dem Schlachtfeld im Westen zugunsten des Regimes.
Auch oppositionelle Kräfte begannen vor dem Hintergrund der Militarisierung des Konflikts auf militärische Unterstützung durch Regional- und Großmächte zu schielen. Dies betraf zunächst sunnitisch-geprägte Kräfte, die Geld und Waffen aus den Golfstaaten und der Türkei erhielten und außerhalb und gegen die FSA Formationen aufbauten, darunter die saudisch unterstützte Dscheisch al-Islam oder die Ahrar asch-Scham.
Doch nicht nur das Regime oder islamistische Kräfte suchten militärische Unterstützung im Ausland – auch die YPG taten es. Und fanden sie bei den USA.
Die Intervention Washingtons in den Syrien-Krieg begann 2014. Die US-Luftstreitkräfte und ihre Verbündeten warfen bis heute über 10.000 Bomben über Irak und Syrien ab, denen unzählige Unbeteiligte zum Opfer fielen. Die Bundeswehr unterstützte dieses Vorgehen mit Luftbetankung und Aufklärungsbildern. Doch den USA fehlten Truppen am Boden. Die kurdischen YPG boten sich als Verbündete gegen den IS an. Sie schlossen sich mit arabischen Truppen zu den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) unter US-amerikanischer Führung zusammen. Sie marschierten mit US-Kommandos in Städte wie Rakka ein. Auf dem Gebiet der SDF unterhalten US-Streitkräfte heute Luftstützpunkte, die dem dauerhaften Verbleib der USA auf syrischem Boden dienen. Der Kommandeur des US Central Command General Joseph Votel lobte die SDF jüngst rückblickend: »Sie haben alles getan, was wir von ihnen verlangt haben.«
Im September 2015 intervenierte Russland in den Krieg und führte in einer barbarischen Bombenkampagne das syrische Regime in Aleppo, der größten Stadt des Landes, zum Sieg. Die YPG nutzte die sich bietenden Möglichkeiten in der Hoffnung, die Landverbindung zwischen Afrin und den restlichen kurdischen Kantonen zu schließen. Dort lagen einige von der FSA kontrollierte Ortschaften. Im Februar 2016 flog die russische Luftwaffe an einem Wochenende rund 200 Angriffe auf Tel Rifaat, eine Kleinstadt zwischen Aleppo und der türkischen Grenze. Die YPG nahm die Stadt am nächsten Tag ein, viele Menschen flohen.
Die türkische Regierung nutzt dies heute zynisch aus. Unter Führung der türkischen Streitkräfte wurden rund 30 arabische und turkmenische Milizen in drei Militärkorps zusammengefasst, darunter die Failak asch-Scham, die Ahrar asch-Scham, die Liwa Asifat asch-Schamal. Sie können Kämpfer mit dem Versprechen mobilisieren, die im Februar 2016 verlorenen Ortschaften wie Tel Rifaat zurückzuerobern und in ihre Heimat zurückzukehren.
Die Spaltung der syrischen Bevölkerung entlang ethnisch-religiöser und regionaler Linien ist eine Tragödie. Sie ist Ergebnis einer systematischen Teile-und-Herrsche-Politik des Assad-Regimes, die allerdings ohne die Intervention der Regional- und Großmächte niemals diese Schärfe angenommen hätte. Syrerinnen und Syrer aller Konfessionen, ob kurdisch- oder arabisch-sprachig, werden von den ausländischen Mächten instrumentalisiert und gegeneinander ausgespielt.
Keine Hoffnung in die USA
Über das Schicksal Syriens wird deshalb heute nicht mehr in Damaskus oder Aleppo, sondern in den Hauptstädten Russlands, den USA, der Türkei und Irans entschieden. Der unmittelbare Auslöser des Angriffs auf Afrin war die Entscheidung der US-Regierung, in Syrien mit eigenen Kommandos stationiert zu bleiben und 30.000 Verbündete der SDF in einer neuen Truppe zusammenzufassen. Washington geht es darum, nach dem Sieg über den IS nun den Einfluss Teherans zurückzudrängen. Die türkische Regierung sieht die Gefahr, dass sich ein kurdisch dominiertes Gebiet an der Südgrenze mit US-Unterstützung dauerhaft etablieren kann.
Doch die Hoffnung der YPG, dass die USA sie in Afrin gegen die Türkei unterstützen werden, ist auf Sand gebaut. US-Präsident Donald Trump hat bereits nach einem Gespräch mit Erdogan die PKK als »terroristisch« verurteilt und – ebenso wie die Bundesregierung – die Sicherheitsinteressen der Türkei als »legitim« bezeichnet. Denn am Ende ist für Washington allein entscheidend, welcher Stellvertreter den iranischen Einfluss am effektivsten begrenzen kann. Wenn die türkische Armee sich durch ihren Vormarsch zu einem solchen Faktor auf syrischem Boden machen sollte, dann haben die kurdischen Truppen für die USA ihre Funktion verloren.
Alles, was die USA derzeit von Ankara verlangen, ist die »Begrenzung« der militärischen Aktion. Mit anderen Worten: Afrin ist den USA egal, solange die türkische Armee nicht die Stadt Manbidsch angreift, wo sich derzeit noch 2000 US-Soldaten befinden. Beide Präsidenten, Erdogan und Trump, so heißt es in einer Mitteilung des Weißen Hauses, begrüßten ansonsten die »Rückkehr von 100.000 Flüchtlingen nach Syrien«. Das ist ein beunruhigendes Zeichen. Es könnte als Zustimmung zum türkischen Plan gewertet werden, arabische Geflüchtete als Puffer gegen kurdische Ansprüche auf der syrischen Seite der Grenze zu instrumentalisieren.
Die anderen Mächte sind nicht besser als die USA oder die Türkei. Moskau unterhält auf syrischem Boden einen Luftwaffenstützpunkt und hat dort kurdischen Repräsentanten ein Ultimatum gestellt, Afrin an das syrische Regime zu übergeben, um den türkischen Angriff zu unterbinden. Denn Ankara hätte ohne grünes Licht aus Moskau niemals angegriffen. Doch YPG und PYD haben sich zu Recht nicht erpressen lassen und Afrin nicht kampflos an das syrische Regime übergeben.
In diesem Konflikt geht es für die Linke international darum, für die Prinzipien der internationalen Solidarität einzutreten. Die Lösung liegt nicht bei den Groß- und Regionalmächten, sondern in der Solidarität zwischen der kurdischen, arabischen und türkischen Arbeiterklasse sowie allen Armen und Unterdrückten der Region. Der erste Schritt muss die Beendung des Krieges und der sofortige Rückzug der türkischen Truppen sein. In Deutschland kann die Linke konkrete Forderungen formulieren, die sich an die eigene Regierung richten, die Teil des zynischen Machtkampfes ist. Dazu gehören:
Legalisierung von PKK, PYD und YPG in Deutschland
Sofortige Einstellung aller Waffen- und Rüstungsexporte in die Region
Einstellung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit der Türkei
Umgehender Rückzug der Bundeswehr aus der Region, Beendung der Militärmissionen in Irak und Jordanien
Unmissverständliche Verurteilung der türkischen Aggression durch die Bundesregierung.[1]