Fabian Priermeier, Journalist
»Wenn es Folter und Isolation in Gefängnissen gibt, dann gibt es auch Folter und Isolation draußen. Wenn wir das Gesamtbild der Türkei betrachten, dann wird dies sehr klar. In diesem Sinne spiegeln die Gefängnisse die Lage draußen wider. Das Leben drinnen ist ein Teil des Lebens draußen. Das, was drinnen passiert, wird uns auch draußen angetan. In diesem Sinne müssen die Aktionen drinnen als Teil des sozialen Kampfes draußen bewertet werden. Hieraus entsteht soziale Sensibilität. Wenn wir für die Verhinderung von Folter und Isolation in den Gefängnissen kämpfen, bedeutet das eigentlich, dass wir für die Befreiung der gesamten Gesellschaft von Isolation und Folter kämpfen. Daher ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen dem Protest drinnen und den gesellschaftlichen Fragen draußen herzustellen. Deswegen muss sich die Gesellschaft mit dem Hungerstreik auseinandersetzen. Die Gesellschaft muss das tun, um ihre eigenen Probleme anzugehen.«
Nicht nur solidarisch, sondern selbst Teil dieses Kampfes seinSo äußerte sich Gülseren Yoleri, Ko-Vorsitzende des Istanbuler Büros des Menschenrechtsvereins (IHD), vor einigen Wochen in einer Pressemitteilung zu den aktuellen Geschehnissen in den türkischen Gefängnissen. Nachdem Ende Mai 2019 der 200 Tage dauernde Hungerstreik Leyla Güvens, der Ko-Vorsitzenden des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (KCD/DTK), seinen Abschluss fand, hat am 27. November 2020 erneut ein vorerst befristeter Hungerstreik in den Gefängnissen der Türkei begonnen.
Verlauf des Hungerstreiks von November 2018 bis Mai 2019
Leyla Güven hatte zu Beginn des letzten Hungerstreiks am 8. November 2018 bekannt gegeben, ihre Aktion erst zu beenden, wenn die Isolation Abdullah Öcalans durch die türkische Regierung aufgehoben werden würde. Binnen kürzester Zeit schlossen sich weltweit mehrere tausend AktivistInnen ihrer Aktion an. Besonders in den Gefängnissen wuchs die Zahl der Hungerstreikenden rasant an, mit um die 7.000 Teilnehmenden wurde im März der Höhepunkt erreicht.
Der türkische Staat, welcher zu Beginn des Streiks noch mit intensivster Repression geantwortet hatte, versuchte nun den Streikenden entgegenzukommen. So kam es beispielsweise am 12. Januar zu einem überraschenden Kurzbesuch Mehmet Öcalans (Bruder von Abdullah) auf Imralı und am 25. Januar wurde dann plötzlich Leyla Güven aus der Haft entlassen. Doch die HungerstreikaktivistInnen machten rasch deutlich, dass auch diese Schritte der Regierung nicht für die Beendigung des Streiks ausreichen würden. Güven selbst setzte die Aktion von ihrem Zuhause in Amed (Diyarbakır) aus fort.
Einige politische Gefangene wollten nicht länger warten und wandelten ihre Aktion in ein Todesfasten um. Das bedeutete, dass sie fortan auf die sonst genutzten Vitaminpräparate gänzlich verzichteten. So wurde die Gefahr für ihre Gesundheit immer größer. Während der Hungerstreik Tag für Tag härter wurde, gingen Menschen überall auf der Welt auf die Straße, um die Streikenden zu unterstützen und um auf sie aufmerksam zu machen.
Das Ergebnis dieses kollektiven Widerstands war bedeutsam. Denn erstmals nach rund acht Jahren konnten die AnwältInnen des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan ihren Mandanten im Hochsicherheitsgefängnis Imralı besuchen. Öcalan nutzte das Gespräch und machte darauf aufmerksam, wie wichtig es für die Demokratisierung der Region des Nahen Ostens sei, die Friedensgespräche wieder aufzunehmen. Erneut erklärten die Streikenden, dass mit einer einmaligen Besuchserlaubnis auf Imralı die Isolationshaftbedingungen Öcalans nicht durchbrochen seien. Sie verwiesen auf ihre Deklaration und machten klar, dass sie ihre Aktion fortsetzen würden, bis alle Forderungen erfüllt seien. Bei einem zweiten Besuch der AnwältInnen auf Imralı, der kurz darauf genehmigt worden war, rief Öcalan abermals den türkischen Staat zum Frieden auf und hielt die Hungerstreikenden dazu an, ihre Aktion zu beenden. Er sagte damals, es sei wichtiger, sich lebendig für die eigenen politischen Ziele einzusetzen.
Der Hungerstreik, der 200 Tage angedauert hatte, schaffte es also, einen Rahmen zu schaffen, in dem es den AnwältInnen möglich war, einige Gespräche mit ihren Mandanten auf Imralı zu führen. Auch die Angehörigen der Gefangenen auf Imralı konnten zu mehreren Besuchen auf die Insel kommen. Anfang 2020 fand noch ein Besuch der Angehörigen statt sowie das erste Telefonat seit 21 Jahren. Seitdem hat es erneut keinen Kontakt mehr zu den Inhaftierten auf Imralı gegeben.
Aktuelle Situation in den Gefängnissen der Türkei
Die Bedingungen in den Gefängnissen haben sich insbesondere im letzten Jahr drastisch verschlechtert. Die täglich unangekündigt stattfindenden Razzien werden immer aggressiver. Alle Kommunikationsmittel wie Radio, Fernsehen usw. wurden beschlagnahmt, Zeitungen werden nicht mehr ausgehändigt. So wurde bei Zellendurchsuchungen in den meisten Gefängnissen der Türkei zu Beginn letzten Jahres jegliches Stück Papier beschlagnahmt, das sich in den Zellen fand. Dasselbe gilt auch für selbstverfasste Aufzeichnungen, Geschichten, Romane und Briefe, in welche die Gefangenen bis zu dreißig Jahre Arbeit investiert haben. Gleichzeitig ist im letzten Oktober die kurdische Sprache mit einem Rundschreiben verboten worden und legale kurdische Bücher wurden aus den Gefängnissen entfernt. Die Gefangenen berichten immer häufiger, dass die Gewalt ein größeres Ausmaß als in den neunziger Jahren angenommen habe, da sie strategischer und gezielter angewendet werde.
Insbesondere der Ausbruch der Covid-19-Pandemie stellt eine sehr große Gefahr für die Gefangenen dar, eine Gefahr, die der türkische Staat gezielt für sich zu nutzen versucht. Zu Beginn der Pandemie wurden durch eine Vollzugsreform tausende Straf- und Gewalttäter zumeist faschistischer Gesinnung wegen Lebensgefahr aus dem Gefängnis entlassen, die politischen Gefangenen werden hingegen weiterhin dem Tod überlassen. Laut Medienberichten haben sich hunderte Gefangene mit dem Virus infiziert. Wie hoch ihre tatsächliche Anzahl ist, kann nicht einmal geschätzt werden. Es sind auch schon einige daran verstorben, so zum Beispiel Muhammed Emir im Gefängnis in Elbistan und Sidki Berktaş im Gefängnis von Tekirdağ. Sie starben vor allem, weil ihnen die medizinische Behandlung verwehrt blieb. Das Vollzugspersonal versucht den Virus gezielt zu verbreiten, indem sie ohne jegliche Schutzmaßnahme in die Zellen eindringen, alles durchwühlen und den Gefangenen nicht einmal die Möglichkeit geben, sich oder ihre Zelle zu desinfizieren. Das kann nur als eine Art des Mordes, als offener Tötungsversuch gewertet werden.
Abgesehen von der rein physischen Gefahr nutzt die Vollzugsleitung die, auf Grund der Covid-19-Pandemie, nahezu grenzenlosen Befugnisse, um den Gefangenen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Es gibt zahlreiche Berichte von Gefangenen, die seit Beginn der Pandemie, sprich seit mittlerweile einem Jahr, ihre Zellen nicht mehr verlassen durften. Alle Gemeinschaftsbereiche sind gesperrt, Sport, Kurse, Familienbesuche und soziale Aktivitäten sind verboten. Damit wird auch der seelische, geistige und produktive Raum der Gefangenen bis zur Unkenntlichkeit beschnitten. Es sind Maßnahmen, die nicht das Leben der Menschen schützen, sondern die Menschlichkeit angreifen und lebensbedrohlich sind. Ganz offensichtlich gehen die Vollzugsleitungen und das Personal davon aus, dass sie für ihre unmenschlichen Handlungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Beginn des aktuellen Hungerstreiks und bisheriger Verlauf
Am 27. November 2020 gab eine Gruppe von Gefangenen über ihre Familienangehörigen bekannt, dass sie einen befristeten Hungerstreik starten würden. Mittlerweile streiken über 2.500 Gefangene in knapp 110 Gefängnissen in Gruppen von mehreren hundert Menschen jeweils für eine Woche, bevor die nächste Gruppe übernimmt. Doch bereits im Dezember kündigten die AktivistInnen an, dass sie im Falle der Ignoranz der staatlichen Behörden gegenüber ihren Forderungen in einen unbefristeten Hungerstreik treten würden.
Bislang ignoriert der Staat die Forderungen und antwortet mit Repression, um die Gefangenen zum Aufgeben zu zwingen. So fanden in den Gefängnissen etliche Razzien statt, besonders gegenüber weiblichen Inhaftierten wurden Disziplinarstrafen verhängt und es wurden bei nahezu allen Streikenden Nacktdurchsuchungen vollzogen. Der hungerstreikende Davut Barin berichtet, dass ihnen lebensnotwendige Dinge wie Salz, Zucker und Zitronen, die sie brauchen, um ihrem Körper lebenswichtige Vitamine zuzuführen, weggenommen und verboten worden seien. Das birgt eine große Gefahr, auch weil ÄrztInnen bereits warnten, dass es aufgrund der Covid-19-Pandemie viel schwieriger sei, den Gesundheitszustand der Hungerstreikenden zu überwachen. Es sei nahezu unmöglich einzuschätzen, ab wann er einen kritischen Zustand erreicht.
Parallel dazu nahm auch die Repression außerhalb der Gefängnisse weiter zu. Die gemeinsame Überwachungskommission des Menschenrechtsvereins IHD, der türkischen ÄrztInnenvereinigung TTB, der Menschenrechtsstiftung der Türkei TIHV, des Gefangenenhilfsvereins CISST und der AnwältInnenvereine ÖHD und ÇHD werden massiv behindert und ihre Pressemitteilungen gestört. Mehrere AktivistInnen in der Türkei, die ihre Unterstützung für den Hungerstreik ausgesprochen hatten, wurden unter dem Vorwurf, eine terroristische Vereinigung zu unterstützen, ebenfalls inhaftiert.
Das ganze Jahr über sind Kampagnen für die Freiheit von Abdullah Öcalan initiiert worden. Den nächsten Schritt in diese Richtung stelle nun der Hungerstreik dar, wie einer der Hungerstreikenden betont. Mittlerweile ist der Streik nicht mehr nur auf die Gefängnisse in der Türkei beschränkt. Auch in dem unter dem Schutz des UNHCR stehenden Flüchtlingslager Mexmûr beteiligen sich bereits seit Mitte Dezember mehrere Menschen, ebenso wie in dem selbstverwalteten Flüchtlingslager Lavrio bei Athen. Allgemein gab es schon in verschiedensten Ländern Unterstützung, zum Beispiel in Deutschland. In Berlin hat bis vor kurzem eine neun Tage dauernde Mahnwache für den Hungerstreik stattgefunden.
Die Gefangenen betonen jedoch, dass das nicht genug sei. Es ginge nicht darum, sich einfach nur solidarisch mit einem Kampf zu zeigen, sondern zu verstehen, dass man selbst Teil dieses Kampfes ist. So äußerte sich der Hungerstreikende Muhamed Inal in einer Presseerklärung: »Überall finden Kampagnen statt, aber wichtig ist vor allem, dass auch unsere Bevölkerung in Nordkurdistan aufsteht und aktiv wird. [...] Wenn sie sich nicht selbst für ihre Freiheit einsetzt, können auch die Kampagnen im Ausland nicht viel bewirken.«
Forderungen und Appell der Hungerstreikenden
Nicht nur solidarisch, sondern selbst Teil dieses Kampfes seinDie zentrale Forderung der Hungerstreikenden ist die Aufhebung der Isolation durch den türkischen Staat. Damit ist vor allem die physische Freiheit des Repräsentanten des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, gemeint, aber auch die Aufhebung der Isolation aller anderen politischen Gefangenen sowie der Gesellschaft an sich.
Darauf, dass die Haftbedingungen Abdullah Öcalans untragbar sind, hatte zuletzt auch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) in seinem Bericht vom August 2020 an den Europarat aufmerksam gemacht. Darin hieß es, unter anderem, dass die auf Imralı Gefangenen von 168 Stunden pro Woche 159 in totaler Isolation verbringen müssten. Das Komitee erklärte wörtlich: »Nach Ansicht des Komitees ist ein solcher Zustand nicht hinnehmbar«, und es riet dem Europarat zu dahingehenden Gesprächen mit der türkischen Republik. Was Letztere jedoch ignorierte und stattdessen mit einem sechsmonatigen Besuchsverbot auf Imralı beantwortete.
Außerdem fordern die Gefangenen auch ein Ende der, durch die Covid-19-Pandemie verschärften, lebensbedrohlichen Haftbedingungen sowie der systematischen Rechtsverletzungen in den Gefängnissen der Türkei. Erdal Güzel, Vorsitzender des Anatolien-Büros der Gesundheitsgewerkschaft SES, äußerte sich dazu: »Wir sehen, dass die Isolation auf Imralı in einem direkten Zusammenhang mit vielen Problemen steht. Wer Frieden, Demokratie, Gerechtigkeit will, muss sich mit der Isolation auf Imralı beschäftigen. [...] Darin ist auch der Grund zu sehen, warum die Gefangenen die Aufhebung der Isolation [...] fordern.«
Die Gefangenen im Hungerstreik betonten in ihren Erklärungen die Legitimität ihrer Forderungen, welche auch außerhalb der Gefängnismauern viel stärker zum Ausdruck gebracht werden müssten. Somit appellierten sie bereits mehrfach an verschiedenste Menschenrechtsorganisationen, Parteien und internationale Institutionen, sich mit der Realität politisch Inhaftierter in der Türkei auseinanderzusetzen und aktiv zu werden. Es liege im Interesse aller Beteiligten, sich um eine politische Lösung zu bemühen, betonten die Gefangen des Weiteren. Nur so könne der befristete Hungerstreik sofort beendet werden, anderenfalls seien die Vorbereitungen für eine unbefristete Fortführung der Aktion bereits in vollem Gange.[1]