ALLE HUNDE STERBEN kann man nicht auf den #Kurden-#Türken Konflikt reduzieren, auch nicht auf einen einzelnen Militärputsch oder eine einzelne Ära. Es geht um viele verschiedene Opfer, aber um einen Täter: der türkische Staat.
Manî CÛDÎ
Buchempfehlung: ALLE HUNDE STERBEN von Cemile Şahin
Vieles, was man in diesen Jahren über Autoritarismus in der Türkei liest, ist auf Erdogan bezogen. Es geht oft um den zivilen Putsch, über die Islamisierung des Landes und seine Militäroperationen. Tatsächlich geht diese Realität aber auf historische Gegebenheiten zurück, die älter sind als er und seine Partei. Das Leben von Menschen, die diesen Autoritarismus nicht erst seit 2003 erleben, ist schon wesentlich länger von wiederholten Traumata geprägt, die Militär- und Polizeistaat auslösen. Das Leben solcher wird zu einem vollkommen zusammenhanglosen und kafkaesken Roman, gefüllt von einer Angst, die furchtlos ist und einer Trauer, die taub und gefühlslos ist.
So fühlt und hört der neue Roman der Künstlerin Cemile Şahins mit dem Titel „ALLE HUNDE STERBEN“ an. Die zutiefst traumatisierten Protagonist*innen des Buches sind verteilt über die Stockwerke eines Hochhauses im Westen der Türkei, irgendwie alle nah aneinander, gefühlt aber alle in einem eigenen Universum.
Ihre Kapitel wie Zeugenaussagen oder Plädoyers, in denen der/die Leser*in dazu gezwungen wird Rezipent*in von irritierenden und rabiaten Erzählungen zu werden, die in Sie-Form um Verständnis bitten. Erzählungen, so fürchterlich, aber auch so surreal, man weiß nicht, ob sie noch ganze Tatsachenbeschreibungen sind, oder eher einzelne Wiedergaben einer Seele, die nicht mehr greifen kann, was passiert ist und was noch passieren wird, oder wie die Protagonistin Sara sagt:
„WER DIE EREIGNISSE NICHT OHNE FIKTION
ERZÄHLEN KANN
HAT SIE NICHT ERLEBT
MEINT ES NICHT AUFRICHTIG MIT UNS
ES GIBT KEINE ANDERE ERKLÄRUNG
FÜR DIESE BILDER MEHR“
Gewalt wir zur Gewohnheit - Gewohnheit zum Alltag
Die Grausamkeit der Erzählungen kommt nicht von ungefähr: Anstatt sich auf ein einzelnes Trauma berufen zu können, sprechen die Protagonist*innen von einer Reihe undenkbarer Erniedrigungen, Verletzungen und Torturen.
So etwa Haydar, dessen Sohn vom Militär getötet wurde, der aber noch einen überlebenden Sohn hat, mit dem er vor dem Fernseher sitzt. Er kann mit dem Geschehenen nicht umgehen, er hat kaum verkraftet was passiert ist, ahnt aber schon die dunkle Zukunft: „Mein lebendiger Sohn fragte: Ist der Film zu Ende? Ich sagte nichts. Dann habe ich begriffen: Alles, was ich erlebt habe, werden meine Kinder erleben. Alles, was meine Kinder erleben, werden sie von früher wiedererkennen. Das wird zur Gewohnheit. Und die Gewohnheit wird zu einem Leben.“
Aber was für ein Leben? Ein Leben, wo Realität und Fiktion, wo Freiheit und Gefangenschaft, wo Leben und Tod so nah, fast schon überlappend sind, wie Metin feststellt, der frisch aus dem Gefängnis kommt: „Das Gefängnis ist für seine Insassen wie ein künstliches Koma. Man ist wach, aber dennoch aus dem Leben gerissen. Die Zeit steht irgendwie still. Du kannst nicht wirklich reden oder denken.“[1]