Ein beachtlicher Fund in der #Türkei# zeigt, welche Figuren Menschen in der Steinzeit in Wände ritzten. In der Fachwelt wird nun über deren Interpretation diskutiert
Julia Sica
9. Dezember 2022
Ein herausragender Fund gelang einem Forschungsteam im Süden der Türkei: Unterhalb der Stadt #Sayburç# verstecken sich die Überreste einer steinzeitlichen Ortschaft. Schon im Jahr 2021 führte die Archäologin Eylem Özdoğan von der Universität Istanbul mit ihrem Team dort Grabungen durch – und stieß auf ein etwa 11.000 Jahre altes Steinrelief. Darauf sind Bilder von Tieren und Menschen auszumachen. Das Besondere: Es dürfte sich um die bisher ältesten Spuren von Kunst aus dieser Region handeln, bei der Figuren nicht voneinander isoliert sind, sondern miteinander agieren – und damit eine Geschichte erzählen.
Unter der Stadt Sayburç stießen Archäologinnen und Archäologen auf steinzeitliche Relikte einer Ortschaft.
Nun erschien die zugehörige wissenschaftliche Auswertung im Fachjournal Antiquity. Özdoğan begann mit den Grabungen, nachdem Einwohnerinnen und Einwohner von Sayburç mehrfach Artefakte fanden, die aussahen, als könnten sie aus der Jungsteinzeit stammen. In der Folge stieß die Archäologin mit ihrem Team auf das fast vier Meter lange Relief, das in der neuen Studie beschrieben wird. Es zeigt zwei Menschen, zwei Leoparden und einen Stier. Augenscheinlich greift sich ein Mann, der von den Raubkatzen flankiert ist, an den erigierten Penis. Daneben ist eine weitere Person zu erkennen, die eine leicht hockende Position einnimmt, sechs Finger an einer Hand hat und einem Bullen gegenübersteht, dem sie ein Objekt entgegenhält.
Das gravierte Relief von Sayburc in quasi voller Länge.
Eine Interpretation ist nicht trivial – immerhin gibt es nur eingeschränkt Vergleichsmaterial aus der Jungsteinzeit. Über die damalige Lebensrealität versucht die Archäologie, möglichst viel herauszufinden, denn es handelt sich um eine besonders interessante Epoche der Menschheitsgeschichte: Rund 9.000 bis 11.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung wurden Jäger-Sammler-Gesellschaften in dieser Region der Erde dem aktuellen Wissensstand zufolge erstmals sesshaft. In der Folge begannen sie, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Fachleute sprechen hier von der neolithischen Revolution oder Transition – immerhin dürfte es sich nicht um einen schlagartigen Wandel gehandelt haben, sondern um mehrere kleine Schritte.
Die bekannteste türkische Fundstätte aus dieser Zeit befindet sich in nur 40 Kilometern Entfernung: In Göbekli Tepe wurde damals ein beeindruckend großes Bauwerk errichtet, Getreidespuren lassen darauf schließen, dass bei Feierlichkeiten mitunter bierartige Getränke gereicht wurden.
Die prähistorische Architektur in Sayburç verrät, wie Wohnräume in dieser Region vor 11.000 Jahren gestaltet wurden.
Man nahm an, dass es sich um einen Ort für außergewöhnliche Rituale handelte – doch dies stellen einige Archäologen wie Edward Banning von der Universität Toronto infrage. Immerhin wurden mittlerweile weitere Gebäude in ähnlichem Stil in der Region entdeckt. Die Mauern zeichnen rundliche Grundrisse, einige Häuser maßen mehr als zehn Meter Durchmesser. Hinzu kommen Säulen, die neben Raubkatzen auch Schlangen und andere potenziell gefährliche Tiere darstellen. Es wird immer offensichtlicher, dass dies die übliche Art ist, wie Dörfer im frühen Neolithikum in diesem Teil der Türkei gebaut wurden, wird Banning im Magazin Science zitiert.
Unwillkommene Gäste erschrecken
Auch die Darstellung von phallusartigen Formen ist nicht ungewöhnlich, wie ähnliche Funde zeigen. Aus Göbekli Tepe ist etwa eine vollständige Skulptur bekannt, die lediglich Torso, Gesicht und erigierten Penis eines Menschen zeigt, wie der Archäologe und Wissenschaftsvermittler Jens Notroff vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) auf Twitter demonstriert.
Bei einem der beiden Leoparden des Steinreliefs ist bei genauem Hinsehen ebenfalls ein Penis zu erkennen. Von den Raubkatzen gehe offenbar eine Gefahr aus, schreibt Notroff. Umso überraschender wirkt es, dass der Mann in der Mitte davon relativ unbeeindruckt scheint. Özdoğan schreibt sogar von einer gleichgültigen Haltung.
Über die Interpretation des Reliefs wird bereits diskutiert.r
Ob dieser Teil des Reliefs voneinander unabhängige Bildelemente zeigt, ist eine Frage der Interpretation. Der deutsche Archäologe Bernd Müller-Neuhof vom DAI vermutet, dass die menschliche Gestalt, die ihren Penis im Griff hat und wie als Interaktion mit dem Publikum in den Raum blickt, womöglich zur Begrüßung von Gästen da ist – oder unwillkommene Eindringlinge erschrecken soll.
Jagd und Sesshaftwerden
Müller-Neuhof zufolge ist nur der nebenstehende Teil des Bildes als Interaktion und Geschichte zu betrachten. Der Mensch, der dem Bullen (einem Auerochsen?) gegenübersteht, könnte eine Art Lasso in der Hand halten, nimmt Banning an. Özdoğan tippt auf eine Rassel oder eine Schlange.
Der Kampf mit dem Bullen und die Gleichgültigkeit angesichts der Leoparden können ihrer Ansicht zufolge erzählen, wie Menschen lernten, wilde Tiere zu unterwerfen. Ein Sinnbild für das Sesshaftwerden der nomadischen Bevölkerung und eine veränderte Haltung gegenüber der Natur also.
Grabungen sorgen für Umsiedlung
Welchen Zweck die Steinzeitmenschen von Sayburç bei der Erschaffung des Kunstwerks verfolgten und ob es gar pornografischer Natur sein könnte, bleibt ein Rätsel – an dem sich weitere Archäologinnen und Archäologen beteiligen werden. Zusätzliche Funde aus der Stadt könnten weitere Indizien dazu liefern, welche Geschichten man sich damals erzählte und was den Alltag der damals in Anatolien lebenden Menschen prägte.
Ein Teil der Ausgrabungen reicht bis unter heute bewohnte Gebäude.
Weil sich die 11.000 Jahre alten Spuren heute teilweise unter Wohnhäusern befinden, hat die türkische Regierung bereits erste Schritte eingeleitet, um weitere Grabungen zu ermöglichen. Die modernen Gebäude wurden aufgekauft, den Bewohnerinnen und Bewohnern sollen neue Häuser zur Verfügung gestellt werden. Das spricht für ein großes Interesse an den beeindruckenden prähistorischen Strukturen. In diesem Zusammenhang lässt sich Notroff einen Seitenhieb auf die kürzlich erschienene wissenschaftsfeindliche Netflix-Dokumentation Ancient Apocalypse nicht nehmen: Archäologie ist wirklich spannend, auch wenn man sich nicht mit einer untergegangenen atlantischen Herrenrasse befasst. [1]