Autor: Riza Dinç
Erscheinungsort: Bonn. Deutschland
Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Veröffentlichungsdatum: August 2005
Die kurdische Frage und das Selbstbestimmungsrecht der Völker sind enger mit einander verbunden, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Auch wenn sie heute weit voneinander entfernt zu sein scheinen, wurden beide historisch gesehen in derselben Phase relevant, nämlich mit dem Zusammenbruch der Vielvölkerreiche und der Entstehung neuer Nationalstaaten nach dem 1. Weltkrieg: das Selbstbestimmungsrecht der Völker, weil es in dieser Umbruchphase als ein Instrument zum Aufbau eines nachhaltigen Friedens gesehen wurde, die kurdische Frage, weil sie in dieser historischen Phase ungelöst blieb, ja sogar durch die Teilung des traditionellen Gebiets Kurdistan auf vier neu entstehende Nationalstaaten verkompliziert und zu einem politischen Problem mit nationalen, regionalen und internationalen Dimensionen wurde.
Der Kern der kurdischen Frage ist im Grunde direkt mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker verbunden. Denn es geht erstens um die Frage, ob die Kurden als Volk anerkannt werden, und dann zweitens um die Frage, ob sie als solches das Selbstbestimmungsrecht für sich in Anspruch nehmen können und dürfen und wenn ja in welcher Form. Beide Fragen waren und sind politisch heftig umstritten, ja im wahrsten Sinne des Wortes umkämpft. Während der türkische Staat so weit geht, schon die erste Frage kategorisch zu verneinen, wurde die zweite Frage in den letzten 100 Jahren auch in den anderen Staaten, in denen Kurden leben, bis auf bestimmte, kürzere Phasen weitgehend abgelehnt, jedoch derzeit im Irak in positives Recht umgesetzt.
In der vorliegenden Arbeit soll diesen Fragen im Lichte des Völkerrechts nachgegangen werden. Ziel ist es zu klären, ob die Kurden im Sinne des Völkerrechts als Volk verstanden werden können und in welcher Form sie das Selbstbestimmungsrecht ausüben können. Zu diesem Zwecke wird zunächst zur Klärung der völkerrechtlichen Grundlagen in Teil II die völkerrechtliche Diskussion zur Entstehung, den Rechtsquellen und dem Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts der Völker sowie zu den Fragen seiner Träger, Inhalte und Durchsetzungsmöglichkeiten zusammengefasst und ausgewertet. Dann werden in Teil III die völkerrechtlich relevanten Charakteristika der Kurden sowie die historischen und zeitgeschichtlichen Wendepunkte, die für die kurdische Frage relevant sind, dargestellt.
Dabei muss die politische und rechtliche Situation der Kurden nach der Teilung auf vier Staaten je getrennt analysiert werden, um der Komplexität der Frage auch nur annähernd gerecht zu werden.
In dem auswertenden und abschließenden Teil IV werden dann die beiden vorangegangenen Teile auf einander bezogen, indem die völkerrechtliche Debatte zum Selbstbestimmungsrecht auf die Kurden angewandt wird. Hier sollen – soweit dies im begrenzten Rahmen dieser Arbeit möglich ist – erste Antworten zu den oben gestellten Fragen gegeben werden, nämlich ob die Kurden im Sinne des Völkerrechts ein Volk und Träger des Selbstbestimmungsrechts sind, in welcher Form sie das Selbstbestimmungsrecht bisher wahrnehmen konnten bzw. in Zukunft wahrnehmen könnten und welche Durchsetzungsformen ihnen dafür zur Verfügung stehen. Mit der Arbeit soll die These überprüft werden, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein bedeutendes Potential zur Lösung der kurdischen Frage bietet. [1]