Zum internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung am 6. Februar legen die deutsche Hilfsorganisation WADI und die Kampagne »Stop FGM in Kurdistan« eine repräsentative Studie über Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen im Nordirak vor. Auf 40 Seiten fasst der Bericht zusammen, was im Rahmen einer repräsentativen Umfrage unter Frauen aus der gesamten kurdischen Autonomieregion des Irak in anderthalb Jahren gesammelt wurde. Demnach sind weit mehr als die Hälfte der Frauen genital verstümmelt, in manchen Regionen rund 80 Prozent. Damit liegen erstmals empirische Daten vor, die das Vorkommen von Genitalverstümmelungen im Nordirak nachweisen…
FGM (Female Genital Mutilation), wie das Beschneiden oder Amputieren weiblicher Sexualorgane im Fachjargon genannt wird, galt bis dato als überwiegend afrikanisches Phänomen. Während auch in westlichen Ländern in den vergangenen Jahren – unter anderem durch Veröffentlichungen wie dem Lebensbericht des aus Somalia stammenden Modells Waris Dirie – eine öffentliche Sensibilisierung für die gravierenden Folgen der grausamen Prozedur stattgefunden hat, galt die Verbreitung außerhalb Afrikas bislang vielfach weiter als Randerscheinung. Mit diesem Irrtum räumt der vorliegende Bericht auf.
Erste Anhaltspunkte gibt der vorliegende Bericht auch dazu, wie das »System FGM« funktioniert und warum Mütter, die den Schmerz selbst erleiden mussten, die Verstümmelung an ihren Töchtern weiter praktizieren. Eine deutliche Mehrheit jener Frauen, die an der Verstümmelung ihrer Töchter festhalten, gibt islamische Gebote zur Begründung an. Ein klarer Zusammenhang besteht der Studie zufolge auch zwischen dem Grad der Bildung von Frauen (und der Möglichkeit des Zugangs zu Bildungseinrichtungen) und der Verbreitung von Genitalverstümmelung. Auch unter Akademikerinnen sind noch mehr als ein Drittel genital verstümmelt. Mit steigendem sozialem Status von Frauen, der Bildung genauso wie ein Bewusstsein um Selbstbestimmungsrechte einschließt, wächst zugleich aber die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit Traditionen und religiösen Geboten.
Die Studie wirft damit ein Schlaglicht auch auf die nach wie vor schlechte Lebenssituation von Frauen in der irakischen Gesellschaft. Hier sind, vor allem in den Kurdengebieten, in denen vergangenen Jahren zwar deutliche Fortschritte gemacht worden. Die alltägliche Diskriminierung von Frauen, ihre tatsächliche und rechtliche Schlechterstellung in allen Bereichen öffentlichen Lebens, stellen nach wie vor eine schwere überwindbare Hürde für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung der Region dar. Damit stellen die kurdische Region und der Irak im Vorderen Orient keine Ausnahme dar. Die Situation von Frauen und Mädchen ist auch in anderen Ländern der nah-östlichen Region vielfach deprimierend. WADI liegen Informationen u.a. aus dem Iran vor, wonach weibliche Genitalverstümmelung wenigstens in den iranisch-kurdischen Gebieten weit verbreitet ist.
Die Studie legt nahe, das Problem weiblicher Genitalverstümmelung neu zu bewerten und lange gehegte Gewissheiten zu hinterfragen. Sicher ist, dass wenigstens in einem Teil des Nahen Ostens die Verstümmelung weiblicher Genitalien zum deprimierenden Alltag von Frauen gehört. Ob und wenn ja, in welcher Weise, Frauen auch in anderen Ländern der Region körperlich verstümmelt werden, können nur Studien wie die jetzt vorgestellten klären. Die bislang weitverbreitete Annahme, dass dort nicht verstümmelt wird, wo man darüber nicht spricht, darf bereits jetzt getrost als Makulatur gelten. Damit müssen sich auch die seit Jahren im Kampf gegen die Genitalverstümmelung aktiven Organisationen, wie das zuständige Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF, aber auch die deutsche GTZ, fragen lassen, warum den vielfältigen Hinweisen auf die Verbreitung von FGM im Nahen Osten nicht systematisch nachgegangen wurde[1].