Der HDP-Europavertreter Devriş Çimen erläutert die Ausgangslage vor den Wahlen in der Türkei im historischen und soziologischen Kontext. Aktuelle Umfragen zeigen einen Rückgang der Unterstützung für Erdoğan.
Am 14. Mai findet in der Türkei der erste Wahlgang zur Wahl des Präsidenten und der 600 Abgeordneten für die Große Nationalversammlung - das türkische Parlament - statt. Die beiden Hauptkandidaten sind der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Kemal Kılıçdaroğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP), der von dem oppositionellen Bündnis für Arbeit und Freiheit aus strategischen Gründen unterstützt wird. Die stärkste Kraft in dem Bündnis ist die Demokratische Partei der Völker (#HDP# ), die aufgrund des gegen sie laufenden Verbotsverfahrens nicht selbst antritt und unter dem Banner der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti) in die Parlamentswahlen geht. Aktuelle Umfragen zeigen einen Rückgang der Unterstützung für Erdoğan. Wenn keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht, kommt es am 28. Mai zu einer Stichwahl.
Laura Sestini vom Onlineportal The Black Coffee hat Devriş Çimen, Vertreter der HDP in Europa, zu seiner Einschätzung der politischen Lage im Vorfeld der Wahlen interviewt. Wir dokumentieren das auf Englisch geführte Interview in deutscher Übersetzung:
In den letzten 20 Jahren hat Erdoğans AKP ihre Macht durch Gewalt gegen Oppositionsparteien und Rechtfertigungen für die Verhaftung und Inhaftierung von Hunderttausenden von Menschen, zum Beispiel nach dem angeblichen Putsch 2016, gesichert. Ist es noch möglich, die politische Ordnung der Türkei als Republik zu bezeichnen?
Eine Republik ist eine Staatsform, in der die oberste Gewalt von Personen ausgeübt wird, die für einen bestimmten Zeitraum vom Volk oder seinen Vertretern gewählt werden. Davon ist die Türkei weit entfernt. Erdoğans Regierungsmethode ging 2011 so weit, wie es innerhalb der Grenzen einer staatlichen Republik möglich war, als er seiner Partei AKP fast 50 Prozent der Stimmen garantierte. Um seine Macht zu festigen, hat er versucht, das wichtigste Problem, mit dem die Türkei heute konfrontiert ist, zu einer Waffe zu machen: Er hat die kurdische Frage, die seit der Gründung der Republik entstanden ist, zu einer Waffe gemacht, anstatt zu versuchen, sie zu lösen. Zwischen 2013 und 2015 hat er zwar Verhandlungen mit Vertreterinnen und Vertretern der kurdischen Freiheitsbewegung geführt, aber nur aus kurzfristigen, taktischen Gründen. Die grundlegenden Probleme des Landes können nur gelöst werden, wenn dem demokratischen Prozess Raum gegeben wird. Nach den Wahlen vom 7. Juni 2015, bei denen die HDP mit 13,1 Prozent der Stimmen erstmals 80 gewählte Abgeordnete stellte und damit Erdoğans Autokratie beendete, annullierte Erdoğan die Ergebnisse und wiederholte die Wahlen fünf Monate später. Die Verhandlungen wurden abgebrochen und die Wiederaufnahme des Krieges wurde angekündigt. Erdoğan verwandelte die schwache Demokratie, die damals bestand, in ein autoritäres Regime. Seitdem herrscht eine Regierungsform, wie sie die irakischen Kurden unter Saddam Hussein erlebt haben, wo Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt zum Alltag gehören. Erdoğan kontrolliert alle staatlichen Institutionen und setzt diese Kontrolle gegen seine Gegner ein, insbesondere gegen die Kurdinnen und Kurden und die HDP.
Warum haben die türkischen Bürgerinnen und Bürger über diesen langen Zeitraum hinweg mehrheitlich der AKP vertraut? Aus Angst vor Veränderungen? Oder weil sie den „starken Mann an der Macht lieben? Ist es richtig, das Volk der Türkei als konservativ zu bezeichnen?
Das grundlegende Problem der Gesellschaft ist die Frage des Türkentums. Sie haben Angst, dass die Demokratie das Türkentum schwächen wird, und Erdoğan spricht deshalb die Ängste der Türken an. Die türkische Bildung und die Art und Weise, wie die Türken erzogen werden, bedeutet, dass allen beigebracht wird, dass das Land von Feinden umgeben ist (gemeint sind die Nachbarländer und der Westen) und dass im Land selbst Verräter lauern, die es spalten wollen, womit insbesondere die Kurden, die Armenier, die Assyrer, die Aleviten und andere Minderheiten sowie Linke gemeint sind. Und so geht die Liste weiter. Die Idee des Landes und die Vorstellung, dass es die Möglichkeit der demokratischen Teilhabe für alle Menschen bietet, wird den Menschen durch Angstmacherei von der Schule an eingebläut. Nationalismus und Rassismus prägen die Erziehung und damit das Leben der Menschen und schaffen eine einzigartig türkisch-konservative Einstellung.
Warum wählen die in Europa lebenden türkischen Staatsangehörigen auch Erdoğan und seine Partei? Ist das nicht ein Widerspruch, wenn man bedenkt, dass viele wegen der Wirtschaftskrise, sozialer Verfolgung oder Autoritarismus aus der Türkei geflohen sind?
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass Menschen, die in einem - im Vergleich zur Türkei - demokratischen Rahmen leben und arbeiten, den Autoritarismus in ihrem Herkunftsland fortsetzen wollen. Es ist ein bitteres und schmerzhaftes Phänomen. Wie ich bereits erwähnt habe, veranlassen die Angst und das daraus resultierende Trauma, das durch die Vorstellung, dass das Türkentum geschwächt werden könnte, einen Teil der Diaspora dazu, für Erdoğan zu stimmen. Die politisch Verfolgten im Ausland stimmen dennoch für Parteien, die andere in der Heimat verfolgen. Andere unterstützen die Fortsetzung der miserablen Politik der Unterdrückung, Ausgrenzung, Diskriminierung und des Patriarchats, die Erdoğans Herrschaft kennzeichnet. Um diese widersprüchliche Haltung richtig zu verstehen, könnte die Sozialwissenschaft eine gründliche Untersuchung durchführen, aber die Frage hat viel mit historischen und kulturellen Ängsten und Phobien zu tun - nämlich mit der Angst vor der Demokratie, davor, dass andere ihre Rechte wahrnehmen können. Wir haben also Türken, die in europäischen Ländern demokratische Rechte ausüben, aber nicht wollen, dass andere, insbesondere Kurden, Aleviten und andere Minderheiten, ihre Rechte in der Türkei ausüben. Wenn zum Beispiel die Kurden in ihrer Heimat die gleichen Rechte hätten, die die Türken hier in Europa als Migranten ausüben können, wären schon viele Probleme gelöst. Aber im Gegenteil, damit die Kurden und andere, die keine Türken sind, ihre Grundrechte nicht wahrnehmen können, wird der demokratische Prozess blockiert.
Welchen Einfluss hat die islamisch-religiöse Rhetorik mit ihren gesellschaftlichen Regeln auf die aktuelle Politik in der Türkei?
Historisch und damit auch politisch war die Politik der Türkei in eine kemalistische (säkulare) nationalistische Strömung und eine islamistisch-nationalistische (religiöse) Strömung geteilt. Die islamische und konservative Strömung wurde weitgehend an den Rand gedrängt und geächtet, bis Erdoğan im Jahr 2002 an die Macht kam. Seitdem hat diese religiöse Strömung die Oberhand gewonnen. Die zahlreichen Militärputsche in der Türkei haben also viel mit dem Konflikt der beiden Strömungen zu tun. Eine dritte Strömung, die demokratische Strömung, die das Land braucht, wurde jedoch von beiden Seiten bekämpft und ausgeschlossen. Erdoğan kann mit seiner islamisch-konservativen und nationalistischen Rhetorik eine bestimmte Basis ansprechen und mobilisieren. Dieser Basis versucht er etwa zu sagen: Wenn die kemalistisch-nationalistische Strömung und die demokratische Strömung - deren Vorhut die HDP und die Kurdinnen und Kurden sind - die Regierung übernehmen, werden sie eure eigenen Rechte einschränken. Er stellt die Kurden und ihre Forderung nach Grundrechten und Demokratie so dar, als wären sie ein Feind. Auf diese Weise kann er einen bestimmten Teil der Gesellschaft davon überzeugen, ihn zu unterstützen, indem er andere bekämpft, und so Angst verbreiten. Seine islamistische Propaganda und sein pragmatischer politischer Ansatz zusammen haben ihn bisher über Wasser gehalten.
Nationalismus ist in der Türkei ein sehr starkes Gefühl. Ist das der einzige Grund, warum einer der Hauptfeinde in der Öffentlichkeit die kurdische Gemeinschaft und ihre (demokratische) politische Perspektive ist, und insbesondere die HDP, die verboten werden soll?
Wir können über die Kurdinnen und Kurden sprechen - aber offiziell gibt es sie in der Türkei nicht! Eine Bevölkerungsgruppe, die es offiziell nicht gibt, kann auch mit allen möglichen inoffiziellen Gewaltmitteln bekämpft werden, und das schon seit Jahrzehnten. Die Forderungen der Kurden nach kulturellen und politischen Rechten werden auf eine Sicherheitsfrage reduziert, die Kurdinnen und Kurden werden kriminalisiert und als innerer Feind ins Visier genommen. Die ohnehin schon antidemokratischen Gesetze werden durch ein willkürliches und höchst problematisches Anti-Terror-Gesetz verstärkt, das zu massiven Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen das Völkerrecht führt. Daher ist es nicht falsch zu sagen, dass sich die Kurdinnen und Kurden gegen das wehren, was ein deutscher Denker als Feindstrafrecht bezeichnet, nämlich ein Rechtskonzept, das ihnen jeglichen Rechtsschutz verweigert. Alle Ressourcen des Landes wurden in den Dienst des Krieges gegen die Kurden gestellt, sowohl in der Türkei selbst als auch bei grenzüberschreitenden Angriffen auf die Nachbarländer Syrien und Irak. Auf internationaler Ebene haben diese ständigen Verstöße gegen das Völkerrecht jedoch kaum ernsthaften politischen, diplomatischen oder rechtlichen Widerstand hervorgerufen. Die HDP und alle anderen, die sich für die Demokratie einsetzen, werden systematisch auf antidemokratische Weise bekämpft, bis hin zu der gegenwärtigen Situation, in der die HDP mit einem drohenden und vollständigen Verbot ihrer politischen Aktivitäten konfrontiert ist. Wenn man bedenkt, dass bisher nicht weniger als sechs politische Parteien, die früher die politische Tradition der HDP repräsentierten, verboten wurden, wird deutlich, wie konsequent antidemokratisch der Staat vorgeht. Berücksichtigt man diese konsequenten Verbote der HDP und ihrer Vorgängerparteien, so wird deutlich, wie antidemokratisch der türkische Nationalstaat und der türkische Nationalismus agieren. Die von den Kurdinnen und Kurden und der HDP artikulierte Forderung nach Freiheit ist jedoch nicht auf einen bestimmten Teil der Gesellschaft beschränkt, sondern gilt für die gesamte Türkei. Gewalt, Unterdrückung, Repression und Krieg sind daher für Erdoğan eine attraktive Strategie, im Gegensatz zu einer demokratischen Lösung.
Wie könnte Erdoğan reagieren, wenn der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu die Wahlen gewinnen sollte? Wird er auf Wahlbetrug hinweisen? Dasselbe, was mit dem Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, im Jahr 2019 geschah, als er verlangte, die Wahl zu wiederholen?
Der wichtigste Aspekt des Wahlbetrugs wurde von Erdoğan bereits vor den Wahlen in die Wege geleitet, als er die HDP durch das von ihm angestrebte politische Verbot in die Lage versetzte, nicht an den Wahlen teilnehmen zu können. Dadurch war die HDP gezwungen, ihre Kandidatinnen und Kandidaten über eine andere, kleinere Partei, die Grüne Linkspartei, aufzustellen. Auch unter diesen Umständen wird die Idee der HDP ihre Rolle spielen. Wenn Erdoğan verliert, ist es mit seinem Mythos vorbei und es wird ein Wendepunkt für die Türkei sein. Dieser Wendepunkt kann vom Hauptkandidaten der Opposition, Kemal Kiliçdaroğlu, genutzt werden, um die Türkei zur Demokratie zu führen. Das ist auch der Grund, warum die HDP und die demokratische Opposition Kiliçdaroğlu unterstützen. Wir wollen eine demokratische Türkei nicht nur zum Nutzen der Türken - oder einer bestimmten politischen Wählerschaft unter den Türken - sondern ein demokratisches Heimatland für alle. Wir streben insbesondere eine Zukunft an, in der Frauen in allen Bereichen des Lebens mitwirken und eine führende Rolle spielen. Wir wollen ein demokratisches Land für Türken, Kurden, Assyrer, Armenier, Araber, Tscherkessen, Lasen, Muslime, Aleviten, Christen und Eziden, in dem diese Minderheiten auch offiziell anerkannt werden. Dazu bedarf es des politischen Willens, die Probleme zu lösen, der Anerkennung und des Dialogs mit allen gesellschaftlichen Gruppen und schließlich einer neuen demokratischen Verfassung, die auch alle genannten Gruppen einschließen sollte. Es ist also noch ein langer Weg zu gehen, aber es geht um alles. Erdoğan kann und wird alles tun, um an der Macht zu bleiben. Er verfügt über eine Fülle von staatlichen Ressourcen und Institutionen.
Wie könnten Erdoğans ausländische Partner, Russland, Iran und andere, reagieren, wenn er die Führung der Türkei verliert?
Erdoğans autoritärer Ansatz war ein nützliches Instrument für seine internationalen Partner. Wenn man sich Erdoğans Freunde ansieht, erkennt man schnell, dass sie keine Demokraten sind. Andere internationale Partner, wie die EU mit ihrem Flüchtlingsdeal oder Schweden und Finnland mit dem Abkommen, das ihnen den Beitritt zur NATO ermöglicht, sehen ihn in einigen Aspekten als nützlichen Verbündeten an und entscheiden sich daher, über seinen Autoritarismus hinwegzusehen, während sie in Fragen wie der Kontrolle der Flüchtlingsströme nach Europa davon profitieren. Viele ähnliche Ansätze verschiedener internationaler Mächte haben eine mögliche Demokratisierung des Landes im Keim erstickt. Geht man jedoch davon aus, dass Erdoğan abgewählt wird, könnten sich die meist angespannten internationalen Beziehungen, die er bisher durch Erpressung durchgesetzt hat, mit der Zeit normalisieren.
Wenn Erdoğan stattdessen als Präsident bestätigt wird, wie wird sich dann die Zukunft der Türkei entwickeln?
Hoffen wir, dass die Wählerinnen und Wähler trotz der Manipulation durch seine stark nationalistisch-islamische Rhetorik mit Vernunft handeln und ihn nicht wiederwählen. Wenn er als Präsident wiedergewählt wird, wird sich das Volk noch mehr bestrafen und sich eine noch antidemokratischere Zukunft sichern. Aber die Türkei hat in ihrer hundertjährigen Geschichte alle Arten von Politik erlebt: Kemalismus, Islamismus, Putsche, Militärdiktatur und schließlich Autoritarismus. Das Einzige, was noch nicht ausprobiert wurde, ist die Demokratie. Ob jetzt oder in den kommenden Jahren, die Türkei muss ihre Ängste überwinden und sich trauen, demokratisch zu sein. In dieser Hinsicht sind die Weltanschauung der HDP und damit der Grünen Linkspartei, und der breitere politische Ansatz der kurdischen Bewegung die wichtigsten Inspirationsquellen. Unabhängig davon, ob die beiden sich gegenüberstehenden islamistisch-nationalistischen und säkular-nationalistischen Strömungen die Macht ergreifen wollen oder nicht, bleiben wir die wichtigste Kraft, die für Demokratie und eine echte Alternative in der Türkei kämpft.
Welche Rolle werden die Frauen in dieser grundlegenden Wahlrunde spielen?
Frauen haben in der Geschichte der Türkei immer einen begrenzten Raum gehabt, in dem Religion, Kultur und Tradition eine gewisse Rolle spielten. Seit Erdoğan an der Macht ist, versucht seine patriarchalische und islamistische Politik auch zu bestimmen, wie Frauen am öffentlichen Raum teilhaben können. Doch aus den Reihen der HDP und ihrer Tradition, in der der kurdische Frauenbefreiungskampf eine inspirierende Rolle spielt, gibt es große Anstrengungen für ein gleichberechtigtes Leben. Aus diesem Grund sind unsere Genossinnen und damit unsere Pionierinnen in der parlamentarischen Politik, wie die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Diyarbakır, Gültan Kışınak, die ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, Figen Yüksedağ, die ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP und der DBP - Partei für Frieden und Demokratie - Sebahat Tuncel, die ehemalige Parlamentsabgeordnete Ayla Akat und weitere tausende politisch aktive Frauen als politische Gefangene inhaftiert. Die Rolle der politisch aktiven kurdischen Frauen und der HDP hat die Politik in der Türkei in gewissem Maße verändert. In und um die HDP ist die Politik stark von Frauen geprägt. So gibt es in der HDP und ihrem Einflussbereich ein Ko-Vorsitzsystem - Frau und Mann - in allen Entscheidungsgremien. Und das demokratisiert die Politik und damit das öffentliche Leben. Auch wenn die Forderungen der Frauen der Mehrheitsgesellschaft bei diesen Wahlen trotz der Bemühungen der HDP und der Grünen Linkspartei nicht ausreichend berücksichtigt wurden, werden politisch aktive Frauen die Wahlen und damit die Zukunft gestalten. In diesem Zusammenhang ist das, was die kurdischen Frauen unter großen Anstrengungen aufgebaut haben, eine große Errungenschaft und eine Lehre für die Gesellschaft und Politik in der Türkei. Das war während des Wahlkampfes sichtbar und wird auch nach den Wahlen sichtbar sein.[1]