In Kooperationsarbeit zwischen der „Êzîdîschen Jugend in Deutschland e.V.“ und der Stelle für Jesidische Angelegenheiten e.V. wurde ein Beitrag zur jesidischen Identität im rassismuskritischen Kontext verfasst und im Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. veröffentlicht. Die Erstpublikation des Artikels mit der Schreibweise „Ezidi:innen“ ist Teil eines Readers für Multiplikator:innen in der Jugend- und Bildungsarbeit und kann hier erworben werden.
von Gian Aldonani und Sarkis Agojan
Als der Islamische Staat im August 2014 einen Völkermord an den Jesid:innen im nordirakischen Shingal beging, war über diese Gemeinschaft und ihren Glauben wenig bekannt. Mit dem Völkermord wurden die Jesid:innen medial sichtbarer und erlangten so eine traurige Berühmtheit, sie rückten damit ins Zentrum gesellschaftlicher und religiöser Diskussionen. Sehr lange waren die Jesid:innen in der Diaspora mit der Frage konfrontiert „Wer sind die Jesid:innen?“. Auch wenn sich diese Frage mit dem Völkermord häufte, so ist weiterhin wenig aus erster Hand über sie und ihren Glauben bekannt. Nicht selten prägen Vorurteile, Diskriminierungen und Ressentiments das Bild der Jesid:innen. Historisch mündeten diese anti-jesidischen Anfeindungen in einer existenzgefährdenden Dezimierung in ihren Ursprungsgebieten und teilweise einer gänzlichen Vertreibung. Doch Jesid:innen wurden und werden nicht nur in ihren angestammten Siedlungsgebieten diskriminiert, verfolgt und vertrieben. Auch in der sicher geglaubten Diaspora wie hier in Deutschland bleiben die Jesid:innen von Diskriminierung und anti-jesidischem Rassismus nicht verschont. Ihre Tradition und Kultur werden als fremd und integrationshemmend abgestempelt. Jesid:innen fallen daher oft in eine Situation der Rechtfertigung ihrer Kultur und Traditionen. Es wird zu oft über die Jesid:innen gesprochen und zu wenig mit ihnen. Jesidische Perspektiven kommen kaum bis gar nicht zum Ausdruck. Die Jesid:innen werden nicht selten von der Mehrheitsgesellschaft, aber auch anderen Migra-Communitys in Deutschland auf Zwangsheirat oder Endogamie reduziert und mit beleidigenden Bezeichnungen wie „Inzuchtsekte“ angegriffen. In diesem Beitrag widmen wir uns daher der jesidischen Sichtweise auf das Thema der Endogamie. Zu Beginn gehen wir darauf ein, wer die Jesid:innen sind und was das Jesidentum ist. Danach werden die jesidischen Endogamiegebote aus theologischer Sicht erläutert. Daran anknüpfend folgt eine historische Einordung, da das Endogamiegebot und seine gegenwärtige Infragestellung auch im historischen Kontext zu sehen ist. Auch wird auf die Auswirkungen des Endogamiegebots auf das Leben der Jesid:innen in der Diaspora und auf die Frage eingegangen, ob das Gebot ein Integrationshemmer ist. Zum Schluss wird das Thema im anti-rassistischen Kontext betrachtet und erläutert, da das Thema nicht selten mit rassistischen Erfahrungen verbunden ist.
Endogamie bedeutet „Heirat nach Innen“ und beschreibt die Vorgabe, dass Menschen zum Erhalt der eigenen sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe nur innerhalb dieses Gefüges heiraten und sich fortpflanzen sollen.
Die Jesid:innen und das Jesidentum
Die Jesid:innen verstehen sich als Angehörige einer alten eigenständigen und einzigartigen Glaubenslehre, die durch eigene Entwicklungsprozesse entstand und in die Ethnogenese der jesidischen Gemeinschaft mündete. Daher verstehen sich die Jesid:innen nicht nur als eine Glaubensgemeinschaft, sondern auch als eine eigenständige Ethnie. Die meisten Jesid:innen ordnen ihre ethnische und religiöse Identität als ethnokonfessionell ein: Die religiöse und die ethnische Zugehörigkeit sind untrennbar miteinander verwoben. Das Jesidentum ist eine monotheistische Glaubenslehre, in der das Böse nicht durch eine eigene Figur verkörpert wird. Neben Gott kennt das Jesidentum also keine Widersacher Gottes, während in vielen Religionen ein Wesen existiert, das das Böse verkörpert und verbreitet. Die Existenz einer solchen Figur stünde im Jesidentum diametral zur Omnipotenz des Demiurgs, deshalb gibt es im jesidischen Wortschatz keine Bezeichnung für die Personifikation des Bösen. Aufgrund ähnlicher Rituale, einer ähnlichen Kultur und einer gewissen geographischen Nähe wurden die Jesid:innen oft fälschlicherweise auch dem Zoroastrismus zugeschrieben. In der Literatur zu den Jesid:innen wurden häufig falsche Einordnungen und Annahmen niedergeschrieben und ihre Glaubenslehre und Identität verfremdet, weil Nicht-Jesid:innen die Literatur über Jesid:innen und das Jesidentum prägten. Diese Falsch- und Fremdzuschreibungen sind allgegenwärtig. Das Jesidentum und seine religiösen Inhalte basieren auf einer mündlich tradierten Sakrallehre, die Außenstehenden nicht zugänglich gemacht wurde. Wiederholt wurden sie in ihren Siedlungsgebieten verfolgt und massakriert. Insbesondere zu Zeiten der Islamisierung im heutigen arabischsprachigen Raum und des osmanischen Reiches waren Jesid:innen vielen Vernichtungsfeldzügen ausgesetzt, weil sie keinen Dhimmi-Status (Schutzbefohlene) beanspruchen konnten, der ihnen eine rechtliche Duldung als Bürger:innen des Staates gegeben hätte. Aufgrund der daraus entstandenen Schutzmechanismen sowie der Übernahme von Zuschreibungen benachbarter muslimischer Würdenträger wurden das Jesidentum, aber auch andere verfolgte religiöse Gruppen wie das Alevitentum oder der Kakaismus, in der späteren Entwicklung und in der Fachliteratur als „Geheimreligion“ und „islamische Sekten“ stigmatisiert, ohne eine fundierte Auseinandersetzung mit den jesidischen Lehren. Neben Gott glauben die Jesid:innen an eine ausgeprägte Angelogie, die das Weltengeschehen im Dienste Gottes waltet und lenkt. Anführer der Engelschaft ist Tawisi Melek, in der Literatur fälschlicherweise oft mit einem gefallenen Engel assoziiert. Das Jesidentum erhebt keinen Alleingültigkeitsanspruch. Für die Jesid:innen ist jede Religion ein Teil der göttlichen Wahrheit, weshalb das Jesidentum keine Missionierung kennt. Die historischen Siedlungsgebiete der Jesid:innen umfassen die Gebiete, die unter anderem als nördlicher Teil Mesopotamiens bekannt sind, also Teile des heutigen Irak, Irans, Syriens und der Türkei. Inzwischen leben im Iran keine Jesid:innen mehr. Die jesidische Gemeinschaft in der Türkei ist in den 1980ern und 1990ern nahezu gänzlich vertrieben worden. Gleiches ist in den letzten Jahren in Syrien zu beobachten. Die erste geographisch relevante Diasporagemeinschaft der Jesid:innen bildete sich Anfang des 19 Jh. in der Kaukasus-Region; insbesondere im heutigen Russland, Georgien und Armenien. Diese Diaspora entstand durch Völkermorde unter den Osman:innen, Jungtürk:innen und Kurd:innen. Das letzte zum Teil zusammenhängende historische Siedlungsgebiet der Jesid:innen — das mittlerweile auch einer religiösen, politischen und demographischen Vertreibung ausgesetzt ist — befindet sich im Norden des Irak in den Regionen Shingal, Sheikhan, Bahzan-Baashiq und einigen größeren Dorfkomplexen um die Großstadt Dohuk (z. B. Khanke und Sharya). Die Zahl der Jesid:innen weltweit wird auf ca. eine Million geschätzt, wobei etwa die Hälfte aller Jesid:innen in der Diaspora, weit weg von ihren traditionellen Siedlungsgebieten beheimatet ist. Mit ca. 200.000 bis 250.000 Jesid:innen bildet Deutschland die größte Diaspora.
Endogamieregeln der Jesid:innen
Das Gebots- und Verbotssystem wird im Jesidentum als „Hed û Sed“ bezeichnet. Damit sind jesidische „Regeln und Gesetze“ gemeint, die sowohl moralischen als auch politischen Charakters sind. Darunter werden die Gesellschaftsstruktur, die Heiratsregeln ebenso wie moralische und ethische Werte verstanden. Das Überleben der Glaubensanhänger:innen in den ursprünglichen Siedlungsgebieten unter mittelalterlichen, d.h. feudalen und religiös absolutistischen Bedingungen der jeweiligen politischen Herrschaften und in einer feindlich gesinnten Umgebung verlangte eine ausgefeilte Organisation und stabile Herrschaft, die durch eine religiöse Betreuung und Repräsentanz gesichert wurde. Die Bedeutung der Heiratsregeln für die Jesid:innen hängen insbesondere mit den Bedingungen ihres Gruppenbildungsprozesses in diesen Umgebungen zusammen. Im Folgenden folgt daher eine Skizze der jesidischen Ethnogenese, also der Entwicklung zu einer geschlossenen Gemeinschaft. Im Mittelpunkt inner-jesidischer Debatten zu den Endogamiegeboten steht Sheikh Adi, ein Mystiker der zu Beginn des letzten Jahrtausends lebte und in seinem Wirken den Mystiker-Orden der Adawiyya gründete. Im Glauben der Jesid:innen ist dieser Mystiker die Menschwerdung Gottes. Als Teil der Mystik wird ein religiöses Gesetz zur politischen Herrschaft abgelehnt. Es gab also eine Ablehnung des im 12. Jh. ausdifferenzierten islamischen Sharia-Rechtes. Die Nähe zu Gott kann in der Mystik nicht durch das Einhalten von Gesetzen erreicht werden, sondern nur durch eigenes Handeln. Die Ordenstradition Sheikh Adis entwickelte sich unter seinen Nachfolger:innen und Anhänger:innen weiter und wurde zu einer religiösen Bewegung, dessen Entwicklungsprozesse gebunden am äußeren Konversionsdruck von Seiten der muslimischen Nachbar:innen in einer Ethnogenese der Ordensanhänger:innen mündete. In den darauffolgenden Jahrhunderten, vom 12. bis zum 14. Jh., fand eine emanzipatorische Transformationsentwicklung der Ordensstruktur und der Religionslehre statt. In dieser Entwicklungsdynamik bildete die Ordensgemeinschaft einen Ethnizitätscharakter aus. In dieser einzigartigen Symbiose aus Heiligenverehrung, weiterentwickelter Mythologie und der Verschmelzung dieser mit den Ordensanhängern und ihrer Kultur zu einer heterogenen Gruppierung bildete sich die Grundlage eines einzigartigen Ethnizitätsverständnisses, das die Jesid:innen bis heute in sich tragen. In dieser Epoche nahmen die Religionsphilosophen eine Kanonisierung der Sakrallehre vor und errichteten das Hed û Sed-Gebilde. Diese Weiterentwicklung der Ordenstradition führte zum strukturellen Bruch mit anderen Mystiker-Traditionen. Denn angesichts wachsender religiöser und politischer Spannungen zwischen Jesid:innen und den muslimischen Herrscher:innen und immer wieder ausbrechender gewaltsamer Konflikte in der Region initiierte die jesidische Elite ein komplexes sozio-religiöses Verbundsystem. Diese gesellschaftliche Strukturierung — mit speziellen endogamen Regeln als Fundament — diente dem systematischen Religionserhalt, dem Erhalt der Organisation der Gemeinschaft und der Kultur. Auch zielte sie auf die Stärkung der Wehrhaftigkeit der Gemeinschaft ab und diente zum Schutz vor Konflikten mit den islamischen Herrschaften, die interreligiöse Familienbildungen und Religionswechsel weg vom Islam verfolgten. Die Adawiyya-Ordenstradition ging einen eigenen Weg: Sie etablierte sukzessiv ein Lebensmodell, das unter anderem ein Heiratsverbot und ein streng verwobenes Verbundsystem vorsah. Im Zentrum dieser Maßnahmen stand der Ausbau der sog. Erbgruppen — fälschlicherweise von vielen Jesid:innen und nicht-jesidischen Forscher:innen als „Kasten“ bezeichnet –, um das Fortbestehen der jesidischen Religion und die Weitergabe von Glaubensinhalten auch unabhängig von einer öffentlichen Organisation zu ermöglichen. Die Ordensanhänger:innen, die häufig auch Religionsphilosoph:innen waren, betteten im 13. Jh. diese Erbgruppen in die Lehren des Jesidentums ein. So festigte sich eine Form der Gesellschaftsstruktur, die sich in Teilen schon zuvor entwickelt hatte. Die Erbgruppen teilen die Jesid:innen in drei Hauptgruppen auf, deren Bestehen durch strikte Endogamie gesichert werden soll und zu der ein Mitglied von seiner Geburt an bis zu seinem Tod gehört. Die Gruppe der Sheikhs besteht aus drei Abstammungslinien, denen eine Heirat untereinander nicht gestattet ist. Die Gruppe der Pirs besteht aus zwei endogamen Gruppen, die Mitglieder der Pir-Gruppen dürfen, mit wenigen Ausnahmen, untereinander heiraten. Die dritte und größte Gruppe ist die der Mirids; sie dürfen nur untereinander Heiratsbeziehungen eingehen. Den Sheikhs und den Pirs kommt insbesondere die Aufgabe zu, die Mirids religiös und spirituell zu betreuen, sie in den religiösen Lehren zu unterweisen und soziale Funktionen wahrzunehmen. Die Verantwortung der einzelnen Erbgruppen erstreckt sich jedoch ausschließlich auf religiöse Belange und explizit nicht auf weltlich-hierarchische Funktionen. Deshalb dürfen die Erbgruppen im Jesidentum mit dem Kastensystem im Hinduismus nicht assoziiert werden, weswegen die Begriffe Kaste und Kastensystem nicht passen und stattdessen die Begriffe Erbgruppe und Erbgruppensystem etabliert wurden. Die Beziehung zwischen den Erbgruppen entspricht einer geistig-religiösen Geschwisterverwandtschaft. Eine Heirat zwischen zwei Menschen aus verschiedenen Erbgruppen wird von Gläubigen daher als religiöser Inzest angesehen, die jeweils anderen Erbgruppen sind die Geschwister im spirituellen Sinne. Deshalb sind Jesid:innen, die mit ihrer Seele noch im Jesidentum verwurzelt sind, in dieser Hinsicht sehr emotional. Da ein Mitglied nur in die jeweilige Erbgruppe hineingeboren werden kann und ein Wechsel zwischen den Erbgruppen ausgeschlossen ist, besteht seit Jahrhunderten eine klare Aufgabenteilung unter den verschiedenen Familien. Diese strikte Trennung soll außerdem Machtkämpfe zwischen den Gruppen verhindern sowie ein effektives und aufeinander abgestimmtes Zusammenleben aller Jesid:innen fördern. Durch die tief im Religionssystem verankerten und durch die Geburt festgelegten Endogamiegebote konnten sich die Jesid:innen jahrhundertelang gesellschaftlich trotz zahlreicher Vernichtungsfeldzüge organisieren und deshalb überleben. John Spencer-Churchill Guest, der der Forschungsliteratur bahnbrechende Erkenntnisse über die Jesid:innen lieferte, schrieb bspw.: „Es ist unglaublich, dass diese kleine Gemeinschaft in Lalish die Abbasiden, die Mongolen, den schwarzen Tod und die Erscheinung des Timur (Timur Leng) überlebte“ (Guest 1993, 27). Durch das ineinander verwobene und zueinander fein abgestimmte Gesellschaftssystem wurde ein innerer Zusammenhalt hergestellt, der es den Jesid:innen ermöglichte in einer feindlich gesinnten Umgebung ohne eine öffentliche Organisierung das Überleben zu sichern und das religiöse Leben zu ermöglichen. Insbesondere diese Regeln haben also dazu beigetragen, dass die Jesid:innen gegen die massiven Islamisierungsbestrebungen resistenter wurden.
Das Endogamiegebot der Jesid:innen — ein Integrationshemmer?
Um diese Frage angemessen beantworten zu können, muss man sich näher mit der jesidischen Geschichte befassen. Dass Jesid:innen über Jahrhunderte abgeschottet und größtenteils in ausschließlich jesidischen Communitys gelebt haben, hängt zu einem beträchtlichen Teil von ihrer Verfolgungsgeschichte ab. Für eine Gesellschaft, die nie so einer starken und bis heute allgegenwärtigen Verfolgung ausgesetzt war, ist es schwer zu begreifen, warum verfolgte und marginalisierte Gemeinschaften wie Jesid:innen, Juden und Jüdinnen und viele andere religiöse und ethnische Gemeinschaften am Endogamiegebot festhalten. Darüber hinaus sind endogame Räume überall auf der Welt und bei vielen Bevölkerungsgruppen zu finden — wenn auch nicht immer aus den gleichen Gründen. Für marginalisierte und verfolgte Minderheiten ist das Endogamiegebot eine wichtige Überlebensstrategie. Das Endogamiesystem ermöglichte das Überleben des jesidischen Volkes, weshalb das System große Akzeptanz und weiterhin viel Zuspruch in der jesidischen Gemeinschaft findet. In der Diaspora sind Jesid:innen selbstverständlich Transformationsprozessen ausgesetzt, die auf Dauer nicht umgangen werden können und einer offenen Diskussion bedürfen. Die ersten Jesid:innen kamen als Gastarbeiter:innen nach Deutschland, doch die Emigration beschränkte sich auf wenige Familien. Die erste größere Gruppe der Jesid:innen kam Anfang der 1980er in Folge türkischer und kurdischer Repressalien nach Deutschland. Hierbei handelte es sich überwiegend um Jesid:innen aus dem Südosten der Türkei. Die Integration dieser Gruppe war anfänglich schwer, weil die lange als religiös und politisch verfolgte Gemeinschaft nicht anerkannt wurde. Die Ablehnung der Asylanträge von Jesid:innen führte sogar zu einem für die deutsche Asylpolitik relevanten Justizskandal, weil die Anträge ohne gutachterliche Analyse abgelehnt wurden. Spätere Untersuchungen zeigten, dass man sich kaum mit der Lage der Antragsteller:innen beschäftigt und die Anträge unbegründet abgelehnt hatte. Schaut man sich die Entwicklung in der jesidischen Community hierzulande an, kann man sicherlich behaupten, dass sich die meisten Jesid:innen vorbildlich integriert haben. Die Zahl junger Jesid:innen an den Hochschulen steigt kontinuierlich; vergleichbar mit der Gesamtpopulation der Jesid:innen ist diese Zahl sogar überproportional hoch. Aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte haben die Jesid:innen gelernt, sich in unbekannten Räumen unauffällig zu verhalten. Geben diese Räume allerdings eine gewisse Sicherheit her, in der sie keiner Unterdrückung ausgesetzt sind, passen sie sich dieser Umgebung schnell positiv an. Hier in Deutschland angekommen kann es zu Konflikten mit „liberalen Werten“ kommen, insbesondere bei der älteren Generation. Diese Generation verortet ihren Wertekanon in der angestammten Heimat, die sie überwiegend unfreiwillig aufgeben musste. Die schnelle Übernahme eines modernen und liberalen Lebensstils wird mit dem Verlust der eigenen Kultur assoziiert und verstärkt die Sehnsüchte nach der Heimat; die Heimat wird zu einem idealisierten Sehnsuchtsort. Sie befürchten, dass eine sukzessive Assimilation letztlich zur Auslöschung der Gemeinschaft führt. Bei der jüngeren Generation hingegen lässt sich eine schnell entstehende transkulturelle Identität konstatieren. Diese Mehrfachidentitäten führen zwangsläufig zu Generationskonflikten, die in jeder emigrierten Gemeinschaft auftreten. In der Integrationsdebatte wird den Jesid:innen aufgrund ihrer endogamen Heiratsvorschriften häufig der Integrationswille abgesprochen. Jedoch können die endogamen Institutionen der Sheikhs, Pirs und Mirids nicht einfach aufgehoben werden, wie oben ausführlich erläutert wurde. Der Vorwurf der fehlenden Integrationsbereitschaft ist nicht begründet, denn sobald sich Jesid:innen in Sicherheit wiegen, passen sie sich problemlos ihrer neuen Umgebung an und hegen keine Berührungsängste, mit anderen sozialen Gruppen zu interagieren. Dies verdeutlicht sich vor allem in ihrer Selbstorganisation: Sie schaffen bewusst Zugänge zur Gesamtgesellschaft. Dennoch ist die Erhaltung der Grundpfeiler ihres Glaubens von hoher Priorität und elementar hierbei sind nun einmal die Endogamiegebote. Die Erhaltung des Endogamiegebots schließt eine gelungene Integration nicht aus, wie wir dies analog auch bei anderen sozialen Gruppen beobachten können. Eine erfolgreiche Integration besteht nicht darin, dass soziale Gruppen substantielle Aspekte ihrer Identität auflösen müssen — dies insbesondere dann nicht, wenn es sich um stark vulnerable Gruppen handelt. Natürlich sind die Heirat und die Partnerschaftswahl eine individuelle Entscheidung. Während früher die arrangierte Ehe eine gängige Tradition war, hat sich das heute sowohl in der jesidischen Diaspora als auch in den Ursprungsheimaten verändert– was nicht heißen soll, dass nicht noch immer solche Fälle existieren. Diese sind aber oftmals von den Familien und Herkunftsregionen abhängig. Früher war es sogar nicht üblich und gern gesehen, dass Jesid:innen Jesid:innen aus anderen Gebieten heirateten. Doch insbesondere durch die urbanen Lebensverhältnisse in Europa kam es auch hier zu einer Transformation. Trotz der fehlenden strukturellen Förderung in Deutschland haben viele engagierte jesidische Vereine eine bemerkenswerte Integrations- und Aufklärungsarbeit geleistet. Die jahrhundertelange Verfolgung der Jesid:innen hat ein selbstbestimmtes Leben aktiv verhindert. In der Diaspora ist es Jesid:innen daher sehr wichtig Chancen und Möglichkeiten wahrzunehmen, um Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein. Zu berücksichtigen ist auch, dass Jesid:innen keine homogene Gruppe darstellen, wie bei einer endogamen Gruppe häufig erwartet wird. Je nachdem wo Jesid:innen sich angesiedelt haben, sind sie anders sozialisiert worden. Ihre Anpassungsprozesse haben unterschiedliche Formen und Eigendynamiken angenommen. Es hat zeitlich betrachtet unterschiedliche Fluchtbewegungen nach Deutschland gegeben. Jesid:innen flüchteten ab den 1970ern beständig nach Deutschland. Die zahlenmäßig bedeutendsten Fluchtbewegungen fanden ab 2000, 2007 und nochmals ab 2014 statt. Gründe für diese Fluchtwellen waren der Irak-Krieg und anhaltende Verfolgungen, die in zwei Völkermorden mündeten. In Diasporagemeinschaften kommt es vor allem bei der jüngeren Generation zu einer Entfremdung von der eigenen kulturellen Identität. Der Schockzustand jedoch, verursacht durch den jesidischen Völkermord in Shingal, führte zu einer Regeneration ihrer kulturellen Energie. Es kam zu einer unerwarteten und bemerkenswerten Rückbesinnung und zu einem stärkeren Bezug zur jesidischen Glaubenslehre und Identität — vor allem bei der jüngeren Generation.
Die Jesid:innen im rassismuskritischen Kontext
Anti-jesidischer Rassismus in Deutschland wird immer sichtbarer und ist mittlerweile salonfähig geworden. Viele Jesid:innen, ob alt oder jung, erleben zunehmend anti-jesidischen Rassismus. Nicht selten kommen diese Ressentiments aus der deutsch-deutschen und der muslimischen Mehrheitsgesellschaft. Oft sehen sich Jesid:innen gezwungen, sich für ihre religiöse Weltansicht zu rechtfertigen — dazu gehört auch das Endogamiegebot. Gibt man sich auf deutschen Schulhöfen oder in sozialen Netzwerken als Jesidi:in zu erkennen, wird man in den meisten Fällen mit beleidigenden Zuschreibungen wie Inzucht, Zwangsheirat, Ehrenmord und Teufelsanbeter konfrontiert. Das hat sogar solche Ausmaße angenommen, dass jesidische Schüler:innen sich zum Eigenschutz eine andere Identität zulegen, um nicht gemobbt zu werden. Auf das Endogamiegebot angesprochen, spüren Jesid:innen daher nicht selten einen latenten Rassismus. Vielen Jesid:innen fällt es schwer, Anlaufstellen zu finden, um von ihren Erfahrungen zu berichten und Raum und Gehör zu finden. Oft befinden sich Jesid:innen in einer Ohnmachtslage, weil sie zu einem Großteil nicht die richtigen Inhalte, Strategien und Konzepte haben, um diesen rassistischen Erfahrungen entgegenzuwirken. In vielen rassismuskritischen Netzwerken und ihrer Arbeit bleiben Themen wie anti-jesidischer und anti-alevitischer Rassismus weiterhin unsichtbar. Durch diese sture Passivität wird diesen Themen und Erfahrungen kein Raum geboten. Auch, weil dominante Teile der rassismuskritischen Netzwerke den Jesid:innen und Aleviti:innen gegenüber reserviert sind. Diese Umstände erschweren den genannten Gruppen den Zugang zu wichtigen Möglichkeiten und Ressourcen der rassismuskritischen Arbeit, um diese Missstände zu nivellieren. Wie eingangs erläutert, beruht das Jesidentum samt seinen religiösen Inhalten auf einer mündlich tradierten Sakrallehre. Eine akademische Auseinandersetzung mit jesidischen Inhalten haben die wenigsten Jesid:innen absolviert. Viele Jesid:innen hatten kaum Zugang zu einer qualifizierten Religionslehre. Anders als bei anderen Religionsgruppen gab es keine organisierten Institutionen, die in einem akademischen Rahmen zum Jesidentum forschten. Durch die veränderten Lebensrealitäten greift die traditionelle Form der theologischen und historischen Wissensvermittlung nicht mehr. Es bedarf einer modernen und institutionalisierten Form der Wissensvermittlung, die den hiesigen Lebensrealitäten gerecht wird — aktuell werden diese geschaffen. Auch hat die heutige Elterngeneration in Deutschland versäumt, die Überlieferungen an ihre Kinder weiterzutragen — selbstverständlich ohne Eigenverschulden, denn in ihren Siedlungsgebieten hatten sie kaum bis gar nicht die Möglichkeit, sich mit religiösen Inhalten auseinanderzusetzen. Zum Teil hatten einige jesidische Gemeinschaften irgendwann gar keinen geographischen Zugang zu anderen Siedlungsgebieten mehr, was starke Spuren in ihrem Selbstbild hinterlassen hat. Hier in Deutschland ist die jüngere Generation somit intellektuell und theologisch größtenteils auf sich gestellt. Die rassistischen Erfahrungen, die viele junge Jesid:innen zunehmend machen, haben dazu geführt, dass sich die Generation junger Jesid:innen neu organisiert und ausrichtet. Immer mehr junge Jesid:innen engagieren sich in jesidischen Netzwerken, um richtige Antworten und Strategien zu finden und zu entwickeln. Auf zunehmende Rassismuserfahrungen antworten Jesid:innen mit emanzipatorischer Selbstermächtigung. Durch das Fehlen notwendiger rassismuskritischer Räume wird dieser Ermächtigungsprozess jedoch verlangsamt. An dieser Stelle sollten rassismuskritische Netzwerke greifen und diese Prozesse unterstützen.
Die Autor:innen
Gian Aldonani ist jesidische Aktivistin und studiert Wirtschafts- und Politikwissenschaft auf Lehramt. Sie wurde im Irak geboren und lebt in Köln. Sie engagiert sich u.a. im Projekt KIRIV („Kooperation interreligiös, interkulturell, vielfältig“), ein Qualifizierungs- und Integrationsprojekt für junge Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sowie mit und ohne Fluchterfahrung im Bundesland NRW.
Sarkis Agojan emigrierte 2003 nach Deutschland und studiert in Hannover Politikwissenschaft und in Georgien Jesidische Theologie. Darüber hinaus wirkt er im Kooperationsprojekt Klinma mit, ein Projekt, das das Thema „Anpassung an den Klimawandel interkulturell managen“ aufgreift. Zudem ist er Pressereferent des Zentralrats der Jesiden in Deutschland und engagiert sich im Verein Stelle für Jesidische Angelegenheiten.
IDA e. V.
Das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (IDA) wurde 1990 auf Initiative von demokratischen Jugendverbänden in der Bundesrepublik Deutschland gegründet. Es fungiert als Dienstleistungszentrum, das in den Themenfeldern Rassismus(kritik), Rechtsextremismus, Antisemitismus, rassismuskritische oder interkulturelle Öffnung, Diversität, Diskriminierungskritik und Migrationsgesellschaft informiert, dokumentiert, berät und qualifiziert.[1]