Die Jesidin will, dass die Täter, die ihr und Tausenden anderen Gewalt angetan haben, vor den Internationalen Gerichtshof gestellt werden. Eine deutsch-jesidische Journalistin trug Murads Stimme in die Welt. Nun wird Nadia Murad mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
3.991 Kilometer sind es von Mossul nach Heilbronn. Diese Strecke hat Nadia Murad zurückgelegt, nachdem sie sich aus der IS-Gefangenschaft befreit hatte und in Baden-Württemberg gemeinsam mit weiteren 1.100 jesidischen Frauen und Kindern Zuflucht gefunden hatte. Der Schritt aber, den die junge Frau im Herbst 2014 innerlich machte, ist in seiner Größe gar nicht zu beziffern: Nadia entschloss sich, öffentlich über das zu reden, was ihr und Tausenden anderen jesidischen Frauen angetan worden war.
Am 3. August 2014 wurde ihr Dorf Kocho im irakischen Sindschar-Gebirge vom IS überfallen. Nadia wurde, zusammen mit den anderen Mädchen und Frauen, in eine Schule getrieben. Die Männer wurden massakriert, darunter sechs ihrer Brüder und zwölf weitere Familienmitglieder. Später erfuhr Nadia, dass man auch ihre Mutter ermordet hatte.
Bevor die Katastrophe über sie hereinbrach, hatte die 21-Jährige Lehrerin werden wollen. Stattdessen wurde sie drei Monate lang gefangen gehalten, geschlagen und vergewaltigt. Als ihr Peiniger das Haus verließ, konnte sie entkommen. Nadia Murad schaffte es in ein Flüchtlingslager im kurdischen Grenzgebiet. Und dort entschied sie sich, Zeugnis abzulegen.
NACHDEM IHR DIE FLUCHT GELANG, ENTSCHIED NADIA MURAD, ZEUGNIS ABZULEGEN
Dass sie auch gehört wurde, ist einer anderen mutigen Jesidin zu verdanken. Zu diesem Zeitpunkt war die deutsch-jesidische Journalistin Düzen Tekkal (EMMA 1/18) im Flüchtlingslager unterwegs, um die Massaker an den Jesiden und Jesidinnen an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch in der jesidischen Community ist eine vergewaltigte Frau eine Schande für ihre Familie. Dennoch war Nadia Murad „die erste IS-Überlebende, die den Mut hatte, ihr Schweigen über die Gräueltaten zu brechen“, erinnert sich Tekkal. Eine „zarte, zerbrechliche Person“ sei sie gewesen. „Aber ich habe diese Stärke in ihren Augen gesehen.“
Seither spricht Nadia Murad über sexuelle Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe. Zunächst in Tekkals Dokumentation „Hawar – Meine Reise in den Genozid“. Und schließlich in der ganzen Welt. Am 14. Dezember 2015 sitzt eine blasse Frau vor einem Mikrofon in einem Saal in London und berichtet mit fester Stimme den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates von dem Grauen. „In dem Gebäude waren Tausende jesidische Frauen und Kinder, die als ‚Geschenke‘ ausgetauscht wurden.“ Schließlich bittet sie die Anwesenden: „Ich flehe Sie an“, sagt sie, „all die Verbrechen gegen Frauen und Kinder in Syrien, im Irak, in Somalia oder Nigeria müssen ein Ende finden. Überall auf der Welt – so schnell es geht!“
Nachdem Nadia Murad in das baden-württembergische Flüchtlingsprogramm von Ministerpräsident Kretschmann aufgenommen wird, lebt sie zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft in Heilbronn. Von hier aus kämpft sie weiter unermüdlich gegen das Schweigen. Sie spricht mit Kanzlerin Merkel und redet auf dem Parteitag der Grünen. Sie hält eine bewegende Rede vor der UN-Vollversammlung in New York. Sie wird zur ersten UN-Botschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel.
SIE WILL ÜBER DEN ERLITTENEN MISSBRAUCH NICHT SCHWEIGEN
Aber die Jesidin will mehr: Sie will, dass die Täter, die ihr und Tausenden jesidischen Mädchen und Frauen diese entsetzliche Gewalt angetan haben, vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden. Dafür findet sie eine starke Mitstreiterin: die Menschenrechts-Anwältin Amal Clooney.
„Nadia Murad hat ungewöhnlichen Mut gezeigt“, erklärte Berit Reiss-Andersen vom Nobelpreis-Komitee. „Sie weigerte sich, die soziale Regel zu akzeptieren, dass Frauen über den erlittenen Missbrauch schweigen und sich dafür schämen sollten.“
Nadia Murad lebt heute halb bei Stuttgart und halb in Washington. Denn dort ist ihr Lebensgefährte, der Übersetzer Abid Shamdeen. Eigentlich wollten die beiden in diesem Herbst heiraten. Doch es kam etwas dazwischen: der Anruf aus Oslo. Die Hochzeit soll baldmöglichst nachgeholt werden.[1]