In unserer Reihe „Jung, Jesidisch, Erfolgreich“ stellt die Stelle für Jesidische Angelegenheiten junge JesidInnen vor, die in Deutschland und Europa nicht nur eine neue Heimat gefunden haben, sondern mit besonders gutem Beispiel in unserer Gesellschaft vorangehen und uns zeigen, wie Integration und das Erfüllen individueller Träume Hand in Hand gehen.
Wenn wir unser heutiges Vorbild in der Sprache seiner Branche beschreiben müssten, würde dieser Text über ihn und mit ihm womöglich nur aus BOOM!, BANG!, POW!, WOW!, WHAM! und vielleicht auch WTF!? bestehen. Für alle, die es nicht verstehen: Sedat Özgen ist ein Künstler der Extraklasse! Und auch wenn wir mit Superlativen nur bescheiden umgehen, braucht sich das Talent des jungen Jesiden vor den Comic-Schmieden Marvel und DC nicht verstecken. Davon, dass ihm sein Comic-Talent in die Wiege gelegt worden sein muss, ist er überzeugt. Denn er wurde in der ur-jesidischen Region BATMAN geboren. By the way, auch wir von SJA sind spätestens beim ersten Treffen mit ihm von seiner Annahme überzeugt, dass der Name seiner Geburtsregion Batman ein Omen war. Lest selbst, warum er mit seiner Familie aus der alten Heimat fliehen musste und im sicheren Hafen Deutschland zu einem Ausnahmetalent des Comiczeichnens wurde – mit viel Schweiß, Fleiß und viel Tinte.
Das Interview wurde geführt von Gohdar Alkaidy
Spricht man mit Sedat, spürt man auf Anhieb seine offene und warme Art, die sein Gegenüber zu einem ungezwungenen Talk einlädt. Ganz so, als wäre er als Comic-Zeichner darauf aus – getreu dem Langstrumpf-Motto „Mal dir die Welt wie sie dir gefällt“ – eine komfortable Zone für sein Umfeld zu schaffen. Aber wo wären wir, wenn auch er als Jeside kein dunkles Kapitel zu erzählen hätte!? Umso erfreulicher ist es, dass er seinen Traum trotzdem verwirklichen konnte.
Lieber Sedat, erzähl uns doch mal, woher du genau stammst.
Sedat: „Ich komme aus Düshaye im Kreis Beshiri der Provinz Batman im Osten der Türkei. Dort wurde ich zumindest geboren…am 20. Juni 1984. Kaum ein Jahr später musste aber meine Familie aufgrund der Perspektivlosigkeit für Jesiden in der Türkei, der Diskriminierung und Benachteiligung als auch dem sich anbahnenden Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen Arbeiterpartei das Land verlassen. So landeten wir in Deutschland. Mit wenigen Habseligkeiten. Ein Neuanfang bei null.“
Ein Neustart bei null – keine Seltenheit bei Jesiden, die immer wieder Opfer islamistischer Übergriffe werden. Mit viel Herzschmerz und noch mehr Heimweh baut sich Familie Özgen zunächst nur ein neues Heim auf – erst in Goch in Nordrhein-Westfalen. Mit der Zeit und langen Jahren wird dann Siegen ein Zuhause und eine neue Heimat.
Sedat entdeckt schon im Kindergarten sein Talent, distanziert sich aber schnell wieder von der Kunst: „Ich erinnere mich noch, wie ich im Kindergarten einen Dinosaurier gezeichnet habe. Und ich erinnere mich, wie gut ich ihn gezeichnet hatte,“ lacht er. Einige Kinder machen abwertende Bemerkungen über die Zeichnung – „Das jähe Ende meiner Karriere,“ witzelt Sedat. Doch seine Abstinenz hält zum Glück nicht lange. In den ersten Schultagen der ersten Klasse sollen Sedat und seine Klassenkameraden als Hausaufgabe einen Papagei zeichnen. Seine Zeichnung legt Sedat dem Lehrer vor: statt Lob und Anerkennung rieselten Schimpf und Vorwurf auf ihn ein. „Er dachte, meine Familie, meine Eltern hätten den Vogel gezeichnet.“ Erst Tage später wird das Missverständnis aufgeklärt, als Sedats ältere Schwester ihn von der Schule abholt und der Kunstlehrer das Gespräch über Sedat und seine Zeichnung sucht. Von da an war Sedat nicht mehr aufzuhalten. Er zeichnet immer und überall und in jedem Schulfach, bis die Lehrer härtere Bandagen aufsetzen: „In der dritten Klasse habe ich für fast das komplette Schuljahr ein Zeichenverbot auferlegt bekommen“, erinnert sich Sedat.
Dennoch sind seine Leistungen gut. Von der Grundschule kommt er auf die Gesamtschule. Dort merkt er, dass er mehr will und schafft den Sprung auf ein Elite-Gymnasium. 2003 absolviert er das Abitur. Im März des darauffolgenden Jahres beginnt er sein Studium in Münster am Fachbereich Design mit dem Schwerpunkt Illustration. „Ich wollte mein Hobby zum Beruf machen, deswegen habe ich dieses Studium ausgewählt.“
Auch Sedats Diplomarbeit zeigt, dass er in Deutschland, seiner Heimat, nicht nur angekommen und integriert ist, sondern auch, wie verbunden er sich mit seinen Wurzeln fühlt: sie befasst sich mit dem jesidischen Scheich Mirza Anqosi aus der Region Batman, der für seinen Gerechtigkeitssinn und für seinen Einsatz für die Jesiden bekannt ist. „Auch weil der Bruder meines Opas, der Sänger Khalile Berfe, ihn und seinen Kampf besungen hat“, erklärt Sedat seine Entscheidung. „Die Bezeugung ‚Nie wieder‘ darf keine leere Floskel werden. Jeder, und ich meine besonders auch unsere kurdischen Freunde und ehemaligen Nachbarn, sollten wissen und sich damit auseinandersetzen, welches Unrecht nicht nur uns Jesiden, sondern auch anderen Minderheiten angetan wurde.“
Das Unrecht, wovon der Künstler spricht, brachte Sedat bereits vor mehr als zehn Jahren zur Debatte – als Comic mit ernster und wahrer Geschichte. Dieser Comic erzählt die Geschichte von Hinterhalt, Feindseligkeit und Verrat. Dieser Comic erzählt von systematischer, struktureller und von türkischer Politik und kurdischer Gesellschaft erduldeter und angewandter Diskriminierung und Verfolgung. Dieser Comic erzählt von Totschlag und Mord. Am Ende erwartete den betroffenen Jesiden nur Tod, Flucht oder Konversion – „letzteres stand für die Jesiden nur in äußerstem Fall zur Debatte, was man auch im August 2014 in Shingal gesehen hat“, sagt er nachdenklich.
Blättert man durch den Comic, ist man erschreckt wie erstaunt: ohne in die vergangenen blutgetränkten Jahrhunderte einzutauchen, reicht ein Blick zurück auf die letzten 14 Jahre, um zu erkennen, dass die Jesiden stets Ziel islamistischer Gewalt gewesen sind. Anfang 2007 beschloss Sedat, die Flucht und die Fluchtgründe seiner Familie in Tinte zu verewigen. Kurze Zeit darauf ereigneten sich schockierende Szenen im Irak: von Kurden und Arabern wurde offen zum Mord an Jesiden und Christen aufgerufen. Über zwei Dutzend Jesiden verloren durch die Pogrome, die ihren Lauf in Moscheen nahmen, ihr Leben. Sie wurden am helllichten Tag gelyncht und ermordet. Und in Shingal sind an einem einzigen Tag, am 14. August 2007, durch zwei parallel gesteuerte Sprengstoff-Anschläge in den Dörfern Til Ezêr und Sîba Scheikh Khidir, fast 800 unschuldige Menschen getötet, über 1500 zum Teil schwer verletzt worden. Dadurch sind Hunderte Kinder zu Halbwaisen, zig zu Vollwaisen geworden. Das war seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York der blutigste Angriff. Die Verantwortung übernahm auch hier die islamistische Terrororganisation al-Qaida.
„Und noch immer hat sich da nichts verändert“, sagt der junge Jeside. „Nach al-Qaida ist vor al-Qaida und noch viel schlimmer. 2014 kam der Islamische Staat und was er gemacht hat, ist dasselbe in grün, nur noch unbarmherziger. Und das im Namen einer Religion.“
Sedat, 2007 hast du vor den verheerenden Anschlägen in Shingal das Thema Flucht und Verfolgung der Jesiden in deinem einzigartigen Comic aufgegriffen. Was wolltest du damit bezwecken?
„Zunächst wollte ich einfach nur die schmerzhafte Geschichte meiner Familie erzählen. Ich bin mir sicher, so ziemlich jeder Jeside, der in einem Land des Nahen Ostens geboren ist, wird sich oder zumindest seine Familienangehörigen in dieser Geschichte wiederfinden. Ferner war meine Absicht jene, der deutschen und europäischen Öffentlichkeit diese eine Geschichte zu erzählen, die ungeheuer viele Schicksale in sich birgt – und zwar so, dass ich dem Leser trotz des Ernsts des Hintergrunds eine gewisse Unterhaltung bieten wollte.“
Ergänzend sagt er, er wolle auch die jüngste Generation der Jesiden, die vorbildlich in die deutsche Gesellschaft integriert ist und sich an erster Stelle als Deutsch-Jesiden betrachtet, auf eine glaubhafte und vor allem zumutbare Weise die Geschehnisse um ihre eigenen Familiengeschichten näherbringen. „Wenn wir ehrlich sind, entbehrt es jeder gesunden menschlichen Vorstellungskraft, wenn man einem Minderjährigen erzählt, dass seinen Vorfahren bei lebendigem Leibe der Kopf abgeschnitten wurde, nur weil diese einen anderen Glauben als den Islam hatten,“ sagt Sedat.
Bei aller Grausamkeit, die die Jesiden über sich haben ergehen lassen, hast du Neuigkeiten für unsere Leser, richtig?
„Ja, tatsächlich habe ich Neuigkeiten. Ich möchte diesen Comic in zweiter Auflage veröffentlichen. Dazu werde ich so Einiges ergänzen und erweitern, detaillierter machen. Und die beste Nachricht ist, jetzt tut bitte nicht überrascht, dass ich diese neue Auflage mit euch zusammen, der Stelle für Jesidische Angelegenheiten herausgeben möchte,“ erklärt Sedat mit etwas überzogener Theatralik und verschmitzt.
Nun, wir von SJA sind nicht überrascht, denn er hat uns das Angebot bereits Wochen zuvor unterbreitet. Aber wir sind umso stolzer, an einer so ehrenhaften und bedeutenden Mission teilhaben und mitwirken zu dürfen. Und noch vielmehr sind wir dankbar dafür, dass du uns zur Seite stehst und uns dein Vertrauen entgegenbringst. Möchtest du noch etwas zum Abschluss loswerden?
„Ich lege jedem Jesiden ans Herz, seine jesidische Identität zu stärken und sich nicht von irgendwelchen Parteien vereinnahmen und instrumentalisieren zu lassen. Jesiden sollten sich in die deutsche Gesellschaft integrieren, trotzdem aber nicht vergessen, weswegen sie beziehungsweise ihre Vorfahren nach Deutschland fliehen mussten. Wir alle sollten uns verstärkt dafür einsetzen, den Dialog mit anderen Glaubensgemeinschaften zu suchen; ganz nach den jesidischen Prinzipien, dass man einen Menschen nicht nach Abstammung, Herkunft und Religion beurteilen darf. Unsere Jesiden sollten begreifen, dass sie in Deutschland in Freiheit leben und alles erreichen können, was sie möchten. Ergreift diese Chance und gebt der Gesellschaft immer soviel zurück wie ihr könnt.“
Last but not least und bevor hier mehr Text als Zeichentalent zu sehen ist, möchten wir unseren Lesern dieses kurze Video mit Zeichnungen unseres Künstlers Sedat Özgen vorstellen. Viel Spaß![1]