Ein Jodlerfest in Steffisburg und der Kurdenchef auf dem Bundesplatz. Beides ist Teil der aktuellen und vielschichtigen Schweiz.
Der Dauerregen am vergangenen Samstag tat der Stimmung am 50. Bernisch-Kantonalen Jodlerfest in Steffisburg, der Zwillingsstadt von Thun, keinen Abbruch. Zum Jubiläum wurde gejodelt, gejuchzt, gesungen, auch Alphorn geblasen und Fahnen geschwungen, jubiliert eben.
Geschmeidige Stimmbänder
Jodeln, die schweizerische Volkskunst im allgemeinen sind zwar fast immer Freizeitbeschäftigungen, aber werden durchaus professionell ausgeübt. Als meine Frau und ich in den übervollen Turnhallen, wohin wegen der Witterung die öffentlichen Vorträge verlegt worden waren, keinen Platz fanden, versuchten wir unser Glück im nahe gelegenen Schulhaus. Dort wo sich die Solo-, Doppel- und Chorjodler vor ihrem Auftritt vor Publikum und der gestrengen Jury aufwärmen. Ansingen heisst das.
Höflich aber bestimmt wurden wir belehrt, dass da Zuhörer nicht erwünscht seien. Der Dirigent versuche oft noch letzte Unebenheiten auszubügeln, die SängerInnen ihre Stimmbänder geschmeidig zu machen, was ja beim Jodel-Falsetto besonders wichtig sei. Dafür kamen wir mit einem Nachbarn am Thunersee ins Gespräch. Er schneidet das Gras am steilen Hang um unser Haus und ist auch langjähriges Mitglied der ‘Bärgjodler Sigriswil’.
Fundrising
Ansingen sei eben von grosser Wichtigkeit. Er erzählt, wie ihrem Solisten, dem Vorjodler, vor einem Jahr beim ersten offiziellen Einsatz für einen Augenblick die Stimme versagt habe. Mit dem Resultat, dass die ganze Gruppe sich in der dritten und niedrigsten Gütekategorie wiederfand. Diesmal sei es vor der Jury viel besser gelaufen, so hofften die ‘Bärgjodler’ auf ein Vorrücken in die erste, und beste Kategorie.
Wie das Resultat tatsächlich ausgefallen ist werde ich bald erfahren. An der ‘Bärgchilbi’ im Justistal, dem jährlichen Fundrising-Event der Gruppe, an dessen Geschicklichkeitsparcours - ohne Jodelprobe - ich 2015 den Einzug in den Final schaffte. Für Ortsunkundige: Das Justistal windet sich zwischen Niederhorn und Sigriswil, vis-à-vis von Spiez, hoch über dem Thunersee Richtung oberes Emmental. Diese Chilbi ist indes nicht mit dem überregional viel bekannteren Justistaler ‘Chästeilet’ zu verwechseln, der öffentlichen Verteilung der Käselaibe an die verschiedenen Besitzer, welche ihr Vieh auf die Genossenschaftsweiden im Justistal schicken.
Kurdischstämmigen Türkeischweizer
Zum Kantonal-Bernischen Jodlerfest waren als Ehrengäste allerdings keine ‘Genossen’ geladen. Sondern die beiden SVP-Nationalräte Albert Rösti und Adrian Amstutz, neben zahlreichen GrossrätInnnen und GemeindepräsidentInnen. Aus verständlichen Gründen; in der Gemeinde Sigriswil etwa wird die Stimmkraft der SVP bei Wahlen und Abstimmungen mit knapp 2/3 des Totals angegeben.
Sicher nicht so bei den kurdischstämmigen Türkeischweizern, welche zusammen mit kurdischen Gastarbeitern in der Schweiz den Löwenanteil stellten des Publikums, das am vergangenen Freitagabend den Bundesplatz gut zur Hälfte füllte für eine Veranstaltung rund um Selahattin Demirtas, den Präsidenten der Partei der fortschrittlichen und - insbesondere aber nicht nur - unter den türkischen Kurden verwurzelten HDP-Partei. Eingeführt wurde er durch den Genfer SP-Nationalrat Carlo Sommaruga, bis vor kurzem Präsident der aussenpolitischen Kommission des NR.
Demirtas, der in seinem Heimatland vom türkischen Präsidenten Recep Erdogan ebenso undemokratisch wie genadenlos verfolgt wird, weilte zu einem offiziellen Besuch in Bern, wo er von Nationalratspräsidentin Christa Markwalder und vom Staatssekretär im EDA empfangen wurde. Der letztere Besuch sei laut Angaben aus dem schweizerischen Umfeld von Demirtas nicht besonders harmonisch verlaufen.
Selbstgewählte Folklore
Was nicht verwundert, nachdem die im Moment von Erdogan völlig dominierte türkische Politik nicht nur die Schweiz, sondern ganz Europa zunehmend ins Dilemma stürzt. Auf der einen Seite der offensichtlich bedingungslose Marsch von ‘Grosssultan Recep’ in totalitäre Autorität, an dessen Ende Bürgerkrieg droht und auf der anderen Seite sowohl die Türkei als Schlüsselstaat bei der Eindämmung der Migrantenkrise mit ihrem rechtspopulistischen Schweif in die europäischen Erzdemokratien, als auch als das Land am Bosporus als europäische Bastion gegen Osten (Nato) und als Brücke zwischen christlichem Abend- und muslimischen Morgenland. Die traditionell vorsichtige schweizerische Aussenpolitik ist entsprechend unschlüssig, ‘sur quel pied danser’ wie es in der traditionellen Diplomatensprache schön und unübersetzbar heisst.
Indes fand das Jodlerfest auf den Strassen und in öffentlichen Gebäuden von Steffisburg, die kurdische Kundgebung auf dem Bundesplatz statt. Beide beim, und mit ‘dem Volk’ also. Entsprechend erfreulich ist es zu rapportieren, dass den beiden so unterschiedlichen Veranstaltungen eines offensichtlich gemeinsam war. Beide fanden in gelöster und familiärer Stimmung statt, mit Kleinkindern - sei es in kurdischen Pluderhosen oder im ‘Mini-Mutz’ (mit ‘Mutz’ wird die oft reich bestickte Joppe schweizerischer Volkskünstler bezeichnet) - die am Rande der Veranstaltungen selig spielten und sich wenig um die Geschäfte der Grossen zu kümmern schienen.
Beide Veranstaltungen sind Teil der aktuellen Schweiz und noch mehr ihrer Zukunft. Unabhängig davon, ob dies dem Einzelnen so passt oder nicht, werden wir uns an diese Realität gewöhnen müssen. Nicht weil dies uns von irgendwoher oder von irgendjemandem aufgezwungen wird. Sondern weil wir alle diese vielschichtige Schweiz so selbst gestaltet haben. Diese kann in allen ihren Ausprägungen ebenso interessant wie vergnüglich sein. Man muss nur zuhören.[1]