Im nordkurdischen Erdîş soll ein Wasserkraftwerk angelegt werden. Es droht die Überflutung unzähliger Massengräber mit den Überresten tausender Menschen, die 1930 beim Zîlan-Massaker getötet wurden.
Anfang des 20. Jahrhunderts verübte der türkische Staat in der nordkurdischen Provinz Wan (Van) das #Zîlan-Massaker# (kurdisch: Komkujiya Geliyê Zîlanê). 89 Jahre später ist weiterhin unklar, wie viele Opfer die Zerschlagung des letzten Ararat-Aufstands am 13. Juli 1930 gefordert hat. Gemäß der Cumhuriyet, der meistgelesenen türkischen Tageszeitung in den 1930er bis 1940er Jahren, starben etwa 15.000 Menschen. Nach Angaben von Überlebenden und Teilnehmern des Aufstands wurden bis zu 55.000 Menschen getötet. Die meisten der Opfer wurden mit Maschinengewehren aus der Sowjetunion durchsiebt. Die UdSSR war damals Hauptwaffenlieferant der türkischen Republik unter Führung des Gründers Mustafa Kemal Atatürk.
Nach der „Säuberungsaktion“ im Zîlan-Tal, so nannte die türkische Republik das Massaker, wurde der Besitz der Getöteten an regierungstreue Kurden übergeben. Anschließend wurden mindestens 60 Dörfer niedergebrannt, dem Berliner Tageblatt zufolge zerstörten die Türken in der Gegend von Zîlan sogar 220 Dörfer. Das gesamte Gebiet um das Tal wurde vom Staat beschlagnahmt, in einigen Dörfern, die dem Zerstörungswahn von Atatürks Soldaten nicht zum Opfer fielen, wurden Kirgisen und Afghanen angesiedelt. Nach fast 14 Jahren Bauzeit ist 1992 in Erdîş der Koçköprü-Staudamm eröffnet worden. Mit der Flutung einiger Dörfer am Zîlan wurden unzählige Massengräber unter Wasser gesetzt. Nun soll das gesamte Tal einem Wasserkraftwerk weichen. Dies hätte zu bedeuten, dass ausnahmslos alle Spuren des Massakers verschwinden werden.
Seit seiner Gründung ermordet der türkische Staat bereits Kurdinnen und Kurden mit unterschiedlichen Methoden und Begründungen. 1938 ereignete sich das Massaker in Dersim mit bis zu 70.000 bis 80.000 Opfern, die sich der Türkisierungspolitik widersetzten. Die gegen die kurdisch-alevitische Bevölkerung von Dersim eingesetzten chemischen Waffen hatte sich Atatürk damals von den Nazis liefern lassen. Aber auch im Osmanischen Reich ist es zu einer Vielzahl von Massakern und Genoziden an Kurd*innen und anderen Ethnien gekommen. An dieser Stelle ist die systematische Ezidenverfolgung und der Genozid an den Armeniern zu nennen. Eine historische und politische Aufarbeitung ist weiterhin nicht abzusehen. Der türkische Staat hat sich bisher mit keinem Völkermord, der von ihm begangen wurde, auseinandergesetzt, und verübt weiterhin Massaker an der kurdischen Bevölkerung.
Der Historiker Sedat Ulugana ist Autor des Werks „Der kurdische Aufstand in Agirî und das Zilan-Massaker“ (türkisch: Ağrı Kürt Direnişi ve Zilan Katliamı 1926-1931). Seinen Recherchen zufolge befinden sich allein im Dorf Mirşud und auf dem Babezeng-Hügel etliche Kinderschädel mit Einschusslöchern: „Die Überreste von Tausenden Menschen liegen weiterhin im Tal. Aus diesem Grund werden die vom Staat beschlagnahmten Dörfer nicht zur Besiedlung durch die Nachfahren ihrer eigentlichen Besitzer freigegeben. Mit dem Wasserkraftwerk versucht die Regierung, alle physischen Spuren des Massakers von Zîlan zu beseitigen. Wenn wir nicht handeln, wird ein weiteres Massaker am kurdischen Volk ungesühnt bleiben.“[1]