Die Kommune als kleinste und wichtigste Einheit der radikaldemokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien ist in der Bevölkerung verankert und im Gesellschaftsvertrag rechtlich abgesichert.
Mit der Revolution in Rojava wurde ein beispielhaftes Modell der Radikaldemokratie ins Leben gerufen. Auf den Grundlagen des Kommunalismus und demokratischen Konföderalismus wurde eine Selbstverwaltungsstruktur aufgebaut, in der die Macht an der Basis liegt. Dies geht mit einer tiefgreifenden Veränderung der vom Baath-Regime geprägten Gesellschaft im Norden und Osten Syriens und Rojava einher. Das Regime hatte einen brutalen auf die Baath-Partei fokussierten Zentralismus installiert und insbesondere Rojava quasi als Kolonie und Rohstoffquelle benutzt. Dabei wurden die Perspektiven der Bevölkerung nicht im Geringsten miteinbezogen und zu einer passiven Masse degradiert. Der kurdischen Bevölkerung wurde sogar in großen Teilen die Staatsbürgerschaft entzogen.
Was ist die Kommune?
Die Revolution von Rojava, die am 19-07- 2012 begann, stellte die Verhältnisse sprichwörtlich auf den Kopf. Die Selbstverwaltung baute ein dezentrales, radikaldemokratisches System mit der Kommune als wichtigster Institution auf.
Die Kommune ist die kleinste Selbstverwaltungseinheit, die je nach gesellschaftlichem Organisierungsgrad und Größe des Ortes zwischen wenigen Dutzenden und über hundert Haushalte umfasst. Es handelt sich um eine Form der Basisorganisation der Menschen, die an einem Ort leben. Sie schützen und verwalten sich selbst und entwickeln Lösungen für Probleme des Alltags sowie auch in der Region. Es handelt sich um ein Kollektiv, das auf lokaler Ebene nahezu alle Verantwortlichkeiten übernimmt, die der Staat den Menschen zuvor entzogen hatte. So arbeiten die Kommunen mit Kommissionen in den Bereichen Gerechtigkeit, Verteidigung, Infrastruktur, Ökonomie, Gesundheit und vielen anderen Sektoren.
Hinter den Kommunen steht der Ansatz des Demokratischen Konföderalismus und der Demokratischen Nation, den Abdullah Öcalan mit Rückgriff auf libertäre Denker wie Murray Bookchin und mesopotamische Traditionen entwickelt hat. Öcalan kritisiert sowohl den etatistischen Objektivismus, der das Individuum missachtet, als auch den postmodernen, liberalen Subjektivismus, der das Individuum in den Mittelpunkt stellt und sagt, dass kapitalistische individuelle Freiheitsversprechen sei „ein Betrug“ mit der Individuum und Gesellschaft in Widerspruch gesetzt würden. In der demokratischen Nation entstehe das freie Individuum durch Selbstrepräsentation auf gesellschaftlicher Ebene in möglichst lokalen Einheiten, wie den Kommunen. Die Kommunen müssten die Diversität der Gesellschaft repräsentieren.
Öcalan beschreibt die Kommunen als Zusammenschlüsse von Menschen, die in allen Bereichen der Gesellschaft aktiv sind. Daher sollten in jedem Dorf Kommunen entsprechend den lokalen Bedingungen aufgebaut werden. Von dort aus könnten sich die Kommunen auf Siedlungen und Städte ausbreiten. Außerdem könnten auch Kommunen im Rahmen von Kooperativen, Fabriken, Vereinen und zivilgesellschaftlichen Organisationen entstehen. Die Kommunen müssten den Teil eines demokratischen Systems bilden. Sie seien damit auch ein Mittel zur Demokratisierung des sozialen und politischen Lebens.
Die ersten Kommunen in Nord- und Ostsyrien
Motor des Aufbaus von Kommunen in Rojava war zu Beginn der Revolution vor allem die Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM). Fesih Hisen aus dem TEV-DEM-Vorstand berichtet gegenüber der Nachrichtenagentur ANHA: „In Rojava und Nord- und Ostsyrien wählten wir den dritten Weg. Wir hatten ein demokratisches Projekt, das auf der Geschwisterlichkeit der Völker und dem gemeinschaftlichen freien Leben der Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien basierte. Es beruht auf der Philosophie von Abdullah Öcalan. Seitdem kämpfen wir dafür. Unser Ziel war es, die Selbstorganisierung der Gesellschaft auf der Grundlage militärischer, politischer, kultureller, wirtschaftlicher und kollektiver Arbeit weiterzuentwickeln. Gleichzeitig ging es auch um die Entwicklung einer gesellschaftlichen Form der Justiz. Wir begannen in den Dörfern, Siedlungen und Stadtvierteln. Die Menschen hatten ein sehr großes Bedürfnis, sich an den Kommunen zu beteiligen.“
Hisen sagt, die Umsetzung des demokratischen Projekts sei dennoch sehr mühsam gewesen und habe große Opferbereitschaft erfordert. Dies sei aber wichtig gewesen: „Weil die Menschen so in der Lage versetzt wurden, sich in den Gemeindekomitees selbst zu verwalten und ihre eigenen Entscheidungen innerhalb einer bestimmten Region zu treffen. Das ist uns auch gelungen.“
Die Kommune und der #Gesellschaftsvertrag#
Im Moment wird ein neuer Gesellschaftsvertrag für Nord- und Ostsyrien erarbeitet. Auch in diesem Entwurf spielen die Kommunen eine entscheidende Rolle. In Artikel 41 des Gesellschaftsvertrags ist festgelegt, dass jede Selbstverwaltungseinheit, ob Dorf, Stadt, Siedlung, Provinz oder Kanton, das Recht auf eigene, unabhängige Aktivität hat. Die einzige Vorbedingung ist, dass diese Aktivitäten nicht dem Wesen des Gesellschaftsvertrags widersprechen. So soll verhindert werden, dass möglicherweise frauenfeindliche, konfessionalistische oder anderweitig diskriminierende Entscheidungen lokaler Strukturen wirkmächtig werden.
In Artikel 67 im Kapitel „Gesellschaftliches System“ heißt es: „Die Demokratische Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens organisiert und vervollständigt ihr demokratisches und freies gesellschaftliches Leben auf der Grundlage der Schaffung von Kommunen, Räten, Akademien, Vereinen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenschlüssen und Institutionen. Durch die Konföderation wird ein auf diesen Institutionen beruhendes demokratisches Gesellschaftssystem entwickelt und etabliert.“ So wie Individuum und Gesellschaft nur in Zusammenhang betrachtet werden können, werden auch die Kommune und Konföderation als organisches Ganzes betrachtet. Die Kommune, die Räte und alle anderen Strukturen sind autonom und konföderieren sich mit anderen Räten und Institutionen, um die gemeinsamen Bedürfnisse zu decken und in größerem Maßstab zu agieren. Auf diese Weise kann die Kommune als Kern der Entscheidungsfindung betrachtet werden, während den Räten und Institutionen, die auf größerer und überregionaler Ebene arbeiten, eine stärkere koordinierende Funktion zukommt.
In Artikel 68 wird in diesem Zusammenhang die Rolle der Kommune nochmals definiert: „Die Kommune ist als Organisationsform die eigentliche Grundlage der Demokratie. Sie ist als ein Ort definiert, an dem sich eine politisch-moralische Gesellschaft entwickelt und gleichzeitig soziales, ökonomisches und kulturelles Leben produziert wird. Sie ist die Kraft, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Sie verfügt über Eigenschaften eines Entscheidungsgremiums, eines Exekutiv- und Verwaltungsorgans. Wie ein Rat, kann auch die Kommune in jedem Bereich Entscheidungen treffen.“
Weiter steht in Paragraph 70 des Gesellschaftsvertragsentwurfs: „Stadträte und Ökologieräte werden alle zwei Jahre Wahlen abhalten, Ko-Vorsitzende und Vorstand werden gewählt. Die Ko-Vorsitzenden der Stadt- und Umwelträte nehmen an den Sitzungen der Volksräte teil. Gleichzeitig nehmen diese auch an den Sitzungen der Leitungsräte teil, reichen ihre Berichte bei den Kommunen, Viertel-, Stadt- und Kantonalräten ein und sorgen dafür, dass die Entscheidungen dieser Räte in den Gesetzgebungsprozess eingebracht werden.“ Nach dem Gesellschaftsvertrag sind die Ko-Vorsitzenden einer Kommune auch Mitglieder im Viertel-, Kreis- und Stadtrat. Auf dieser Ebene koordinieren die Kommunen die Arbeit.
Die Basis des Rechtssystems
Hisen erklärt: „Die Artikel im neuen Gesellschaftsvertrag werden die Kommunen weiter stärken und die Ausübung gesellschaftlicher Gerechtigkeit und die Entwicklung der Ökonomie vertiefen.“ Dem Gesellschaftsvertrag entsprechend hat die Kommune auch judikative Funktionen. Die Grundlagen zum System der „gesellschaftlichen Gerechtigkeit“ sind in dem Entwurf folgendermaßen festgelegt: „Das System der gesellschaftlichen Gerechtigkeit basiert auf der Organisierung der Gesellschaft. In ländlichen Gebieten, in Dörfern, Nachbarschaften, Städten und Kantonen werden Verfahren auf der Grundlage der gesellschaftlichen Gerechtigkeit gelöst. Dabei steht der friedliche Ausgleich im Mittelpunkt.“
Grundlage des Rechtssystems bilden die Friedens- und Verständigungskommissionen der Kommunen. Diese im Gesellschaftsvertrag erwähnten Verständigungskommissionen lösen Konflikte und fördern den Frieden und die soziale Sicherheit. Von den Stadtverwaltungen über die Kantone organisieren sich die Kommissionen dem Bedarf entsprechend. Ihre Vertreter:innen werden gewählt. Sie arbeiten ehrenamtlich und werden allgemein akzeptiert.
Grundlage des Rechtssystems ist die Freiheit der Frau
Die Revolution von Rojava stellt die Frauenbefreiung in den Mittelpunkt. Dies gilt auch für das Rechtssystem. Laut Gesellschaftsvertrag müssen alle gemischten Institutionen eine Frauenbeteiligung von 50 Prozent haben.
Fetullah Hiso vom Komitee zur Entwicklung des Gesellschaftsvertrags sagt zum Rechtssystem: „Das System der gesellschaftlichen Gerechtigkeit ist autonom. Es stützt sich auf die politischen, moralischen und kulturellen Prinzipien der Gesellschaft. Die Grundlage ist, dass es von den Völkern ausgeht und auf der Frauenbefreiung basiert. Mit diesem System werden die Rechte des Individuums im gesellschaftlichen Leben, die Einheit des Volkes und seine Organisierung gewährleistet.“
Hiso fährt fort: „Die Paragraphen des Rechtssystems wurden der Gesellschaft und der Region entsprechend geschaffen. Denn das Wesen des Justizsystems besteht darin, der sozialen Gerechtigkeit auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrags Leben zu schenken. Nicht alles ist vollständig, einige Artikel können Probleme und Lücken aufwerfen. Aber in der Praxis werden wir die Probleme lösen.“
Zur Rolle der Kommunen sagt Hiso: „Die Kommune ist ein wesentlicher Bestandteil des Gesellschaftsvertrages. Sie ist der entscheidende Ort, um die Artikel des Gesellschaftsvertrags mit Leben zu füllen und sie in die Praxis umzusetzen. Darüber hinaus umfasst die Kommune das gesamte gesellschaftliche Leben, die Politik und die Kultur. Sie ist der Boden, auf dem die wichtigsten Entscheidungen von unten nach oben getroffen, diese umgesetzt und organisiert werden. Die Kommune ist die Basis des Rechtssystems in Nord- und Ostsyrien.“
Die Rolle der Kommune in der Ökonomie
Die Kommune spielt auch im ökonomischen Bereich in der Entwicklung einer Bedürfniswirtschaft eine wichtige Rolle. Im Gesellschaftsvertragsentwurf heißt es dazu: „Die autonome Verwaltung stützt sich auf die gesellschaftliche Ökonomie, die Entwicklung der gesellschaftlichen Ökonomie wird langfristig ein Gleichgewicht im Sinne sozialer Gleichheit schaffen.“ Die kommunale Wirtschaft basiert auf weitgehend autarken Kooperativen und Projekten, die ihre Produktion durch die Ökonomiekommissionen der Kommunen auf den gesellschaftlichen Bedarf einstellen.
Theorie und Praxis der Kommune
Fesih Hisen sagt, dies sei der erste Versuch auf der Welt, ein demokratisches Projekt in diesem Ausmaß umzusetzen, und es gebe große Hindernisse. Diese lägen auch darin, dass die Menschen über Jahre an das Leben in Abhängigkeit von Regierungen gelebt hätten. „Aus einer solchen Lage plötzlich zu einem demokratischen System überzugehen, sich selbst zu verwalten, alles selbst zu organisieren, führt mit Sicherheit zu gewissen Mängeln. Weil das Projekt aber dennoch erfolgreich ist, wird es vom Feind ins Visier genommen“, so Hisen und weist darauf hin, dass die Angriffe dagegen sowohl militärisch als auch auf gesellschaftlicher Ebene erfolgen.[1]