I.Z: Können Sie uns bitte etwas über sich selbst und über Ihre derzeitige Arbeit erzählen?
Mahmut Begik: Zurzeit übe ich mehrere Beschäftigungen gleichzeitig aus. Vor allem moderiere ich eine Sendung namens „Dengên Axê“ (Die Stimme der Heimat) auf Kurd 1. Das Programm beinhaltet nur kulturelles, besonders geht es um die kurdischen traditionellen Volksliedsänger (Dengbêj) und über die kurdischen Dichter in Kockirî. Ansonsten bin ich ein Rentner und war vorher Englischlehrer. Zu meinen Tätigkeiten gehörten auch Dienste bei der Großstadtgemeinde von Amed (Diyarbakir). Weiterhin war ich in einigen privaten Unternehmen tätig. Im Moment mache ich meinen Master in kurdischer Sprache und Kultur und bin auch im achten Semester meines Wirtschaftsstudiums. Zudem arbeite ich an zwei Büchern. Einmal über das Leben und die Erinnerung von meinem Vater Molla Abdullah Xerzi (Timoqi) und mein zweites Buch schreibe ich über mein Leben und meine Erinnerungen, welches ich in der „Wir“-Perspektive schreibe und nicht als „Ich“-Erzähler
I.Z: Leider gibt es viele kurdische Persönlichkeiten, von denen man wenig Informationen bekommt, da ihre Lebensgeschichten nicht geschrieben worden sind. Deswegen sind sie entweder nur in den Gebieten, wo sie geboren wurden, bekannt oder werden leider in Vergessenheit geraten. Molla Abdullah Timoqî ist einer von denen. Können Sie uns etwas über Ihren Vater für unsere Leser erzählen? Wer war Molla Abdullah Timoqî?
Mahmut Begik: Gerne. Xerza ist ein Landkreis der Stadt Êlih (Batman). Die Städte Qubînê (Bişêrî)-Misirc (Kurtalan)-Hawêl (Baykan)-Hezzo(Kozluk) und Sason gehören dem Gebiet Xerza an. Die Einwohner dieses Gebietes nennt man Xerzî. Deswegen nennt man meinen Vater auch Molla Abdullah Xerzî. Timoq ist unser Dorf, welches ziemlich groß ist und zwischen Hezzo und Sason liegt. Offiziell aber gehört unser Dorf Timoq zu Hezzo(Kozluk). Deshalb ist mein Vater auch unter dem Namen Molla Abdullah Timoqî bekannt.
Laut Ausweis wurde mein Vater im Jahre 1897 in Timoq geboren. Vielleicht ist es nicht ganz richtig. Er müsste entweder 1903 oder 1904 geboren sein. Er ging in Silîva zur Schule. Nach seiner Schulzeit begann mein Vater im Jahre 1956 als Imam in der Gegend von Silîva und Hezzon zu arbeiten. Seinen Unterhalt verdiente er durch die Viehzucht. Nach seiner Zeit als Imam ging er wieder zurück in sein Dorf Timoq und wohnte dort.
Es gab keine Zeit in seinem Leben, in der mein Vater nicht las. Bei jeder Gelegenheit las er am Tag sechs stundenlang Bücher. Unter seinen Armen trug er immer Bücher mit sich herum. Er beherrschte die Sprachen Kurdisch, Arabisch, Persisch und Osmanisch sehr gut.
Das Bemerkenswerte an seinen Sammlungen war, dass in allen seiner Schriften die Sammlungen von Scheich Ehmedê Xanî, Melayê Cizirî, Feqiyê Teyra, Scheich Evdirehmanê Axtepî und von vielen anderen kurdischen Schriftstellern nicht fehlten. Das war die Grundbasis seines kurdischen Patriotismus. Mein Vater hatte am Tag nicht weniger als 15-20 Schüler. Jeden Tag kamen Schüler, die von ihm unterrichtet wurden. In allen Regionen, wo er unterrichtete, öffnete er seinen Schülern die Möglichkeit, die Latein-Schrift zu lernen. Mein Vater überzeugte Familien, ihre Kinder in die Schulen zu schicken und folgte Scheich Ehmede Xani.
I.Z: Was war die Arbeit Ihres Vaters Molla Abdullah Xerzî (Timoqî)?
Mahmut Begik: Seine Arbeit umfasste zwei Teile. Ein Teil seiner Arbeit war die Förderung und Bildung kurdischer Jugendliche in Madrasas und in Lateinschulen. Der andere Teil seiner Arbeit handelte von Kurden und das Kurdentum. Die Grundlage seiner Arbeit war die Unabhängigkeit. Ich kann seine politischen Tätigkeiten wie folgt beschreiben:
Während der Zeit von Scheich Saids Hinrichtung und seinen Mitstreitern sagte er: „Dieser Tag war ein schwerer Rückschlag für das kurdische Volk.“ An diesen Tagen hörte er mit der Schule auf und begann mit seiner politischen Tätigkeit. Er half vielen revolutionären Kämpfern, von Nordkurdistan über die Grenze nach Westkurdistan zu gehen. Er schloss sich der Xoybun an. Nach dem Niederschlag des Ararat-Aufstands blieb er allein und führte ihre Arbeit fort.
Beim Sason-Aufstand unterstützte nicht nur mein Vater sie, sondern alle Dorfbewohner von Timoq mit ihrem Vermögen und ihren Waffen. Kurden, die nach Anatolien vertrieben wurden, gingen über Silîvan. Der damalige türkische Kommandeur behandelte das Volk verabscheuungswürdig. Zusammen mit Molla Evdil Qudus Cemîlê schlugen sie auf den damaligen türkischen Kommandeur der Gegend ein, bis die verabscheuungswürdigen Taten aufhörten.
Durch die Kurden in Syrien (Westkurdistan) baute mein Vater Beziehungen mit der Stadt Mahabad (Ostkurdistan) auf. 1959 wurden 50 Kurden verhaftet und in die Gefängnisse gesteckt. Die Mehrheit dieser Personen waren Schüler meines Vaters. Diese Verhaftungen nennt man in der Geschichte von Kurdistan „Doza 49 an“ (Prozess der 49)
Im Jahre 1965 wurde in Amed (türk. Diyarbakir) die Demokratische Partei Kurdistan-Türkei (PDK-T) gegründet. Mein Vater war der Verantwortliche für den Raum Xerza.
1965 bis 1971 übernahmen die türkischen Streitkräfte die Macht in der Türkei. Bei den Parlamentswahlen unterstützte Molla Abdullah Xerzî die Arbeiterpartei der Türkei, kurz TIP (türk. Türkiye Isci Partisi). Auch bei den Demonstrationen in Kurdistan war er immer in den vordersten Reihen.
Im Jahre 1971 wurde er verhaftet. Seine Gerichtsverhandlung dauerte bis 1973. Bis zur Gerichtsverhandlung war er aber auf freiem Fuß. Er wurde freigesprochen. Im Zuge von Generalamnestie im Jahre 1974 wurden alle gefangenen Kurden freigelassen. Nach 1974 entstanden leider innerhalb der Kurden viele Splitter-Gruppen, und viele Parteien wurden gegründet. Diese Gruppierungen innerhalb der Kurden hatten meinen Vater sehr gestört. Er aber setzte sich immer für die Einheit der Kurden ein. Die Kurden bekämpften sich oft gegenseitig, bei denen Menschen starben. Mein Vater sagte immer, dass die Kämpfe innerhalb der Kurden nicht im Interesse des kurdischen Volkes seien, sondern nur den Feinden nutzen würden. Es hat keinen Nutzen für die Kurden.
Nach 1980 wurde Molla Abdullah Xerzî oft festgenommen, jedoch nicht ins Gefängnis gesteckt. Im Jahre 1985 führte die türkische Regierung Operationen aus und durchsuchte das Haus von meinem Vater. Diese Operationen waren gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gerichtet. An diesem Abend war mein Vater nicht Zuhause. Er flüchtete und ging nach Südkurdistan (Nordirak). Durch die Demokratische Partei des Iranischen Kurdistans (PDK-I) ging er nach Ostkurdistan. Das Politbüro der PDK-I war in der Stadt Recan. Idris Barzani (Sohn des PDK-Gründers Molla Mustafa Barzani und Vater von Nechirvan Barzani) und die Vorsitzenden der Demokratischen Partei des Iranischen Kurdistans (PDK-I) ernannten meinen Vater zum Anführer der „Vereinigung der Imame in Kurdistan“. Molla Abdullah Xerzî wurde dort verhaftet und nach 76 Tagen aus dem Gefängnis entlassen.
Ende 1989 ging mein Vater nach Westkurdistan (Nordsyrien). Dort arbeitete er aktiv und unterstütze die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Er versöhnte die zerstrittenen kurdischen Familien. Von Efrîn bis Eyndîwer (arab. Ain Diwar) gab es keinen Ort in Westkurdistan, wo er nicht war und nicht gearbeitet hatte. Am 2. Februar 1992 starb mein Vater in Westkurdistan. Sein Leichnam wurde in Derbêsiye (arab. Al-Darbasiya), in einem Dorf namens Berkevir, begraben. Jetzt ist es ein Pilgerort der Kurden.
I.Z: Wie wollen Sie die Arbeit ihres Vaters fortführen?
Mahmut Begik: Jeder macht seine Arbeit. Da ich auch ein Schüler von Molla Abdullah Xerzî war, werde ich im Bereich Sprache, Literatur und Einheit des kurdischen Volkes alles tun, was in meiner Macht steht. So wie mein Vater den Weg von Scheich Ahmedê Xanî, Melayê Cizîrî gefolgt hatte, so werde ich auch versuchen, ihren Weg zu gehen.
I.Z: Hat Ihr Vater an ein freies Kurdistan geglaubt?
Mahmut Begik: Ich habe in vielen Orten über das Thema gesprochen. Er wollte nicht nur ein freies Kurdistan, sondern auch ein unabhängiges, einheitliches, demokratisches Großkurdistan. In einem Interview fragte ein englischer Journalist meinen Vater: „Glauben Sie mit ihren 90 Jahren noch an ein unabhängiges Kurdistan?“. Er antwortete: „Natürlich, wenn ihr Engländer es zulässt.“ In der Zeit, als mein Vater am Leben war, wurde in Südkurdistan eine Schutzzone für die Kurden bis zum 36. Breitengrad errichtet und die Früchte der Unabhängigkeit erschienen.
I.Z: Wie baute Molla Abdullah Xerzî Beziehungen mit politischen Parteien auf?
Mahmut Begik: Molla Abdullah Xerzî stammt aus der Zeit der kurdischen Organisation Azadî (Freiheit), in der auch Scheich Said war. Er baute mit allen kurdischen Parteien oder Gruppierungen Beziehungen auf, die nach Scheich Said gegründet wurden. Es gab keine kurdische Partei oder Gruppierung, mit dem er nicht in Kontakt war. So groß wie Kurdistan auch ist, so gering ist das gegenseitige Kennenlernen [der Kurden untereinander].
I.Z: Wie lange blieb Molla Abdullah Xerzî in der Mahsum Korkmaz-Akademie der Bekaa-Ebene?
Mahmut Begik: Molla Abdullah Xerzî blieb nicht da, er ging nur an besonderen Tagen dorthin. Das eine Mal gab er zusammen mit dem Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, eine dreieinhalbstündige Konferenz an der Mahsum-Korkmaz-Akademie. Das Thema war mehrheitlich über Geschichte und Beratung. Molla Abdullah Xerzî war in Westkurdistan. Wie ich anfangs schon erwähnt habe; von Efrîn bis Eyndîwer (arab. Ain Diwar) gab es keinen Ort in Westkurdistan, wo er nicht war und wo er nicht für die kurdische Sache gearbeitet hatte. Das macht ungefähr 540 km² Fläche aus und ist auch nicht wenig.
I.Z: PKK-Vorsitzender Abdullah Öcalan hatte Molla Abdullah Xerzî sehr geschätzt, immer wenn vom Thema Religion die Rede ist, spricht Öcalan von ihm und sagt, dass vor allem gläubige Kurden Molla Abdullah Xerzî als Vorbild nehmen sollten. Können Sie etwas über die Beziehung zwischen Öcalan und Molla Abdullah Xerzî erzählen?
Mahmut Begik: Klar. Molla Abdullah Xerzî war nicht nur religiös. Man sollte Molla Abdullah Xerzî nicht nur als einen Religiösen sehen, sondern auch als einen Kurdist, Patriot und einen Politiker. Er war ein Historiker. Er hatte Kompetenzen in vielen Bereichen. Er war ein Lehrer. In der Zeit, als Abdullah Öcalan meinen Vater als Vorbild gab, war die Hisbollah auf der Tagesordnung und die Möglichkeiten der Kurden waren nicht gut. Molla Abdullah Xerzî sagte zu Öcalan und seinen Freunden immer, dass sie nicht gegen Religionen sein dürften. “Wenn die Feinde eine Waffe haben, dann ist das die Religion und mit der Religion werden sie euch angreifen”, sagte er. Er hatte Recht, seine Worte wurden in die Tat umgesetzt. Alle vier Besatzungsmächte griffen im Namen des Islam das kurdische Volk an. Mit der Sure Enfal griff Saddam Hussein das kurdische Volk an und tötete 182.000 Menschen. Bis dies der PKK bewusst wurde, töteten die Besatzungsmächte unter dem Deckmantel des Islam zehntausende Kurden.
Zu der Beziehung zwischen Molla Abdullah Xerzî und Abdullah Öcalan kann ich sagen, dass Öcalan keinen Schritt vor Abdullah Xerzî ging. Er ging immer einen Schritt hinter ihm. Öcalan hatte großen Respekt vor ihm. Mein Vater verfolgte keinen Eigeninteressen. Sein Ziel war nur die Bequemlichkeit und das Wohlbefinden des kurdischen Volkes. Molla Abdullah Xerzî war eine lebende Legende für Öcalan. In vielen Themen lernte und holte sich Öcalan Ratschläge von ihm. Die Philosophie von Molla Abdullah Xerzî war, dass ein Mensch bis zum letzten Atemzug ein Lehrer und gleichzeitig ein Schüler sei. In Religionsangelegenheiten war Molla Abdullah Xerzî sehr sensibel. “Die Vereinigung der Imame in Kurdistan” wurde beispielsweise nach seiner Initiative gegründet.
I.Z: Haben Sie einen Aufruf an die in Europa lebenden Kurden?
Mahmut Begik
Mahmut Begik: Leider haben die Kurden in Europa keine Lobby. Die Kurden bauen meist mit kleinen Gruppierungen oder Parteien Beziehungen auf. Es ist notwendig, dass die Kurden höchstmögliche Kontakte aufbauen. Diese Idee kommt vom Sozialismus. Wir sind aber leider immer noch die Schwachen des Sozialismus. Außerdem sollen sich die in Europa lebenden Kurden nicht so hochnäsig wegen ihrer guten Arbeit im Bereich der kurdischen Sprache gegenüber dem Volk in Kurdistan verhalten. Sie sollen nicht vergessen, dass sich eine Sprache innerhalb des Volkes weiterentwickelt. Ein weiteres Thema ist auch, dass die Kurden, die nach Europa gehen, ihre Familien nicht aneinander halten. Die Familien gehen oftmals auseinander. Es ist sehr notwendig, dass sie zusammenhalten. Kurden in Europa sprechen zu oft gegeneinander. Das ist kein guter Umgang miteinander. Sie sollen sich vereinen, eine Reihe und eine Linie werden. Es ist schwierig, eine Einheit zu schaffen und leichter sich in Stücke zu trennen. Die Kurden sollen den schwierigen Teil wählen.[1]