Am 15. November 1937 wurden der geistliche und tribale Vordenker des alevitisch-kurdischen Dersim-Widerstands, Pîr Sey Rızo, und sechs seiner Mitstreiter durch den türkischen Staat hingerichtet. In vielen Städten ist an sie gedacht worden.
„Ich wurde mit euren Lügen und eurer List nicht fertig, das ist mir zum Leid geworden. Aber dass ich vor euch nicht auf die Knie gegangen bin, das soll euch zum Leid werden.“ Das waren die letzten Worte von Pîr Sey Rızo, dem geistlichen und tribalen Vordenker des Widerstands im alevitisch-kurdischen Dersim von 1937, vor seiner Hinrichtung. Zum 83. Todestag von Pîr Sey Rızo - auch #Seyit Rıza# oder auf Kurmancî Seyîd Riza genannt -, seinem Sohn Resik Ûşen und seinen fünf Mitstreitern Wusênê Seydi, Aliye Mirzê Sili, Hesen Ağa, Fındık Ağa und Hesenê Ivraimê, die am 15. November 1937 in Xarpêt (türk. Elazığ) durch den türkischen Staat ermordet wurden, haben in vielen Städten Nordkurdistans und der Türkei Gedenkveranstaltungen stattgefunden. In einer gemeinsamen Erklärung, die alevitische Organisationen und Verbände im Vorfeld der Zeremonien veröffentlichten, hieß es: „Die größte Lehre, die wir aus dem Dersim-Genozid ziehen können, ist die Realität, dass sich eine Gesellschaft durch kollektive Organisierung der Unterdrückung widersetzen kann.“
In Dersim selbst wurde das Gedenken am Nachmittag traditionell mit einer Kundgebung auf dem Seyit-Riza-Platz eingeleitet. Nach einer Schweigeminute und Ansprachen zogen die Menschen gemeinsam bis zur Pax-Brücke und ließen Nelken in den Bach Harçik fallen, in den 37/38 so viel Blut floss, dass dieser tagelang blutgetränkt war. Um genau 19.37 Uhr wurde kollektiv das Gebet zur Erweckung des Lichtes (Delîl/Çerağ) gesprochen, bevor Lokma verteilt wurde. Das Lokma ist ein wichtiger Bestandteil der alevitischen Cem-Zeremonien, wobei das Prinzip des Teiles und der Solidarität im Vordergrund steht.
Mit dem Gedenken an Pîr Sey Rızo, seine Freunde und die Opfer des Genozids in Dersim 1938 verknüpfte die alevitische Gesellschaft auch in diesem Jahr wieder politische Forderungen für die Gegenwart. Gefordert wird in erster Linie eine Entschuldigung der Türkei und die Aufarbeitung des Genozids auf staatlicher Seite, die Aktenfreigabe - seit 1938 ist das Staatsarchiv de facto unzugänglich, noch nicht einmal tröpfchenweise wurden Archivalien freigegeben – sowie die Preisgabe vom Aufenthaltsort der Leichen von Sey Rızo und seiner Freunde, die nach der Hinrichtung an einem geheimen Platz beigesetzt wurden, und die Rückgabe vom Land der Ermordeten oder Vertriebenen, das vom Staat unrechtmäßig konfisziert oder an Kollaborateure übertragen wurde.
Das ist auch die Forderung von Zeliha Polat, für die sie sich seit Jahrzehnten einsetzt. Die Enkelin von Pîr Sey Rızo, die in der „verbotenen Zone“ Dersims auf den Ruinen ihres Elternhauses eine Hütte baute, leistet seit genau zwanzig Jahren Widerstand dafür, um in ihrem alten Stammgebiet zu leben. Doch es wird ihr schwer gemacht. Seit der Niederschlagung der von ihrem Großvater angeführten Rebellion ist die Wiederbesiedlung der Region verboten. Die Schweizer Filmemacherin Gabriela Gyr hat eine Dokumentation von Zelihas Hütte, die für viele Dersimerinnen und Dersimer inzwischen zu so etwas wie einer Pilgerstätte geworden ist, gedreht.
Gedenken in Istanbul
Dersim, für die Türkei eine „entvölkerungswürdige“ Zone
Angesichts der geografischen Gegebenheiten war es der Region Dersim zur Zeit des Osmanischen Reiches weitgehend möglich, einen de-facto autonomen Status und ein Mosaik aus ethnischen und religiösen Gruppen aufrechtzuerhalten. Dies änderte sich in den 1930er Jahren, als 1934 das sogenannte Besiedlungsgesetz (İskan Kanunu) in Kraft trat. Die Regierung unter Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk wollte einen homogenen türkischen Staat unter türkischer Prägung. Dersim war das erste Gebiet, in dem das Gesetz der Entvölkerung zur Geltung kommen sollte. In seiner Rede zu Parlamentseröffnung 1936 bemerkte Atatürk: „Um diese Wunde, diesen furchtbaren Eiter in unserem Innern, samt der Wurzel anzupacken und zu säubern, müssen wir alles unternehmen – egal was es koste.“
Daraufhin wurden alle Institutionen der tribalen und religiösen Führung abgeschafft und ihr Grundbesitz konfisziert. Dersim wurde in Tunceli (türkisch: Eiserne Hand) umbenannt und unter Militärverwaltung gestellt. Beabsichtigt war eine politisch-administrative Reorganisation mit Hilfe militärischer Repression. Hierfür wurde der militärische Ausnahmezustand über Dersim verhängt.
1937 formierte sich ein Aufstand gegen die Assimilations- und Türkisierungspolitik des kemalistischen türkischen Staats. Dieser Aufstand wurde von Pîr Sey Rızo angeführt. Den bewaffneten Widerstand wiederum führte das Paar Alişêr und Zarife an. Dass Frauen in den kurdischen Widerständen eine tragende Rolle spielen, hat Tradition. Doch durch einen physischen und kulturellen Genozid wurde der Aufstand in Dersim blutig niedergeschlagen.
„Als Seyit Rıza die Galgen sah, verstand er. „Ihr werdet mich hängen“, sagte er, und drehte sich zu mir um. „Bist du aus Ankara gekommen, um mich zu hängen?“ Wir schauten uns an. Zum ersten Mal stand ich einem Menschen, der hingerichtet werden sollte, von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er lachte. Der Staatsanwalt fragte, ob er beten wolle. Er lehnte ab. Wir fragten nach seinen letzten Worten. „Ich habe noch vierzig Lira und eine Uhr, gebt die meinem Sohn“, sagte er. In dem Moment wurde Fındık Hafiz gehängt. Zweimal riss der Strick. Ich stand vor dem Fenster, damit er nicht sehen konnte, wie Fındık Hafiz gehängt wurde. Die Hinrichtung Fındık Hafiz' war zu Ende. Wir brachten Seyit Rıza zum Richtplatz. Es war kalt. Niemand war da. Aber Seyit Rıza sprach in die Stille und Leere, als ob der Platz voller Menschen sei. „Wir sind Kinder Kerbelas. Wir haben nichts verbrochen. Es ist eine Schande. Es ist grausam. Es ist Mord.“, sagte er. Es überlief mich eiskalt. Dieser alte Mann ging schnellen Schrittes und schob den Zigeuner beiseite. Er legte sich den Strick um, trat den Stuhl weg und vollstreckte sein eigenes Urteil.“ - İhsan Sabri Çağlayangil, der spätere Außenminister der Türkei, der als junger Beamter das Gerichtsverfahren gegen Pîr Sey Rızo organisierte
Die Forderung zur Abschaffung der „Tunceli”-Gesetze und Gewährung einer Verwaltungsreform und nationaler Rechte wurden mit Einmarsch der türkischen Armee geantwortet. Am 4. Mai 1937 beschloss die Regierung in Ankara ihre Operation „Züchtigung und Deportation“. Sodann marschierte das türkische Militär mit 30.000 bis 40.000 Soldaten in Dersim ein und tötete bis zu 14.000 Menschen. Männer, Frauen, Alte und Kinder wurden erschossen oder – um keine Munition zu verschwenden – mit Bajonetten erstochen. Kinder wurden teilweise entführt und deportiert oder mit ihren Müttern in Heuschuppen gelockt und dort bei lebendigem Leibe verbrannt. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt und mit Kampfflugzeugen bombardiert.
Im September 1937 bot die türkische Regierung einen Waffenstillstand samt Friedensvertrag und sogar Kompensationen an. Daraufhin begab sich der damals 75-jährige Aufstandsanführer Sey Rıza für Friedensgespräche nach Ezirgan (Erzincan). Dort wurde er jedoch in einem Hinterhalt verhaftet, im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und am 15. November 1937 gemeinsam mit seinem Sohn und fünf seiner Freunde in Xarpêt hingerichtet.[1]