Am 5. November 2015 findet vor der 2. Kammer für schwere Straftaten in Eskişehir die 47. Verhandlung in einem Verfahren gegen sieben Angeklagte statt, denen der Mord an mindestens 20 Personen im Kreis Cizre in den Jahren 1993 bis 1995 zur Last gelegt wird.Nachdem die Staatsanwaltschaft in der Verhandlung vom 18. Juni 2015 Freispruch für den Oberst Cemal Temizöz und die anderen sechs Angeklagten gefordert hat, steht zu befürchten, dass auch dieses Verfahren ohne Schuldspruch zu Ende geht. Dagegen hat sich eine Initiative gebildet, die sich gegen die Straffreiheit in Verfahren wegen Verletzungen der Menschenrechte wendet.
Inhaltsverzeichnis
1 Das Verfahren wegen der Morde in Cizre
2 Andere Verfahren zu Verschwundenen
3 Zahlen und Fakten zu Verschwundenen
4 Weblinks
5 Einzelnachweis
Das Verfahren wegen der Morde in Cizre
Nach einem Bericht in Bianet vom Juni 2015 unter dem Titel Gözaltında Kayıplar Cizre’de, Dava Eskişehir’de hat Serap Işık folgenden Überblick über das Verfahren gegen Oberst Cemal Temizöz und sechs weitere Angeklagte erstellt:
Am 14. Juli 2009 erstellte die Staatsanwaltschaft in Diyarbakır eine Anklage gegen sieben Angeklagte wegen der Ermordung von 20 Zivilisten in den Jahren 1993-1995. Das Verfahren wurde vor einem Sondergericht in Diyarbakır eröffnet. Gegen die Angeklagte wurde mehrfach erschwere lebenslange Haft gefordert. Der Anklageschrift zufolge wurden damals spezielle Verhörteams gebildet. Von ihnen sollen Personen, von denen angenommen wurde, dass sie die PKK unterstützen, unter Folter verhört, um sie danach gewaltsam verschwinden zu lasen oder zu töten. Die Opfer sollen zwischen 12 und 48 Jahren alt gewesen sein. Ausgangspunkt des Verfahrens war die Aussage eines zu der Zeit inhaftierten Dorfschützers mit Namen Mehmet Nuri Binzet. Die Aussagen von zwei weiteren geheimen Zeugen deckten sich mit seiner Aussage. Diese Zeugen wurden jedoch binnen kurzer Zeit enttarnt und zogen darauf ihre Aussagen zurück.
Im Laufe des Verfahrens wurden sowohl Zeugen als auch Vertreter der Nebenklage bedroht und von Angehörigen der Angeklagten unter Druck gesetzt. Die Angeklagten wiederum behaupteten, dass sie einen Kampf gegen Terrorismus führten und sie dafür belohnt werden müssten. Insbesondere Temizöz behauptete, dass er Cizre von der Vorherrschaft der PKK befreit habe.
Nach einer Gesetzesänderung im Jahre 2014 wurde das Verfahren nach #Cizre# verlegt, um im Jahre 2015 aus Sicherheitsgründen in das 1.300 Kilometer entfernte Eskişehir verlegt zu werden.
Am 5. November 2015 meldete Bianet unter Temizöz Davasında Tüm Sanıklara Beraat, dass alle Angeklagten in diesem Verfahren aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden. Das waren neben dem Oberst Cemal Temizöz, der ehemaligen Bürgermeister von Cizre, Kamil Atağ, Kukel Atağ, Tamer Atağ, Adem Yakin, der Überläufer Fırat Altın (Abdulhakim Güven), Hıdır Altuğ und Burhanettin Kıyak.
Andere Verfahren zu Verschwundenen
In einem Artikel in Bianet vom 20. Oktober 2015 mit dem Titel Cemal Temizöz Suçsuz ise 21İnsanıKimÖldürdü? wurde neben den Eckdaten zum Verfahren wegen der Morde in Cizre sowohl eine Grafik präsentiert (binnen 22 Jahren nach den Morden hat es 47 Gerichtstermine gegeben, die mit dem Antrag auf Freispruch der Angeklagten endeten) als auch auf andere Verfahren hingewiesen, die in einem Freispruch endeten. Dazu gehören
Wegen 13 Fällen von extralegalen Hinrichtungen in Mardin in den Jahren 1992-94 wurde der General Musa Çitil angeklagt. Er wurde im Mai 2014 von der 2. Kammer für schwere Straftaten in Çorum freigesprochen. Später wurde er zum Kommandanten der Gendarmerie in Diyarbakır befördert.
Der pensionierte General Mete Sayar wurde wegen des Verschwindenlassens von sechs Dorfbewohnern im Kreis Silopi im Juli 2015 freigesprochen.
Zahlen und Fakten zu Verschwundenen
In Bianet vom 27. Oktober 2015 stand ein weiterer Bericht zum Thema mit der Überschrift Şırnak’ta 211 Kişi Gözaltında Kaybedildi. Dieser Bericht enthielt eine Reihe von Grafiken, in den u.a. die Zahl der in den 1990er Jahren in der Provinz Şırnak verschwundenen Personen mit 211 angegeben wurde. Nach den einzelnen Kreise aufgeschlüsselt waren dies: in Cizre 79 Verschwundene, in Silopi 69 Verschwundene, in Güçlükonak 22 Verschwundene, im Zentralkreis Şırnak 21 Verschwundene, in İdil 11 Verschwundene, in Beytüşşebap 3 Verschwundene und in Uludere 6 Verschwundene. Diese Zahlen hatte das Gedächtniszentrums für Wahrheit und Gerechtigkeit ermittelt.
Ebenfalls vom Gedächtniszentrums für Wahrheit und Gerechtigkeit stammen die Zahlen von Verschwundenen in verschiedenen Provinzen der Türkei. Hier führt die Provinz Diyarbakır mit einer Zahl von 382 Verschwundenen, gefolgt von Şırnak mit 211. Zusammen mit den Zahlen zu den Einwohnern der jeweiligen Provinz ergibt sich folgendes Bild:
Provinz Einwohner Verschwundene
Diyarbakır 1362708 382
Şırnak 488966 211
Mardin 705098 184
Batman 456734 77
İstanbul 13854740 72
Hakkari 236581 69
Tunceli 93584 47
Şanlıurfa 1443422 33
Adana 2006650 28
Bitlis 388678 26
Summe 1129
Wenn die Zahlen der Verschwundenen zur Zahl der Einwohner in Relation gesetzt werden, ergibt sich die höchste Dichte von Verschwundenen für die Provinz Tunceli (0,5 Betroffene auf 1.000 Einwohner, gefolgt von Şırnak mit 0,43 Betroffenen auf 1.000 Einwohner). Die Summe der insgesamt verschwundenen Personen wurde vom Gedächtniszentrums für Wahrheit und Gerechtigkeit in dem Bricht Konuşulmayan Gerçek: Zorla Kaybetmeler aus dem Jahre 2013 mit 1,353 angegeben. Diese Zahl liegt deutlich über den von Helmut Oberdiek im Jahre 2007 ermittelten Zahl von ca. 800 Fällen von Verschwundenen. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass Helmut Oberdiek die Fälle nicht berücksichtigt hat, in denen die Leichname zu einem späteren Zeitpunkt gefunden wurden. Zudem hatte der Bericht aus dem Jahre 2007 auch eine nicht geringe Dunkelziffer von bis dahin unbekannten Fällen eingeräumt. [1]