Şinasi Tur, Rechtsanwalt und Angeklagter im KCK-Hauptverfahren
Die Justiz spielt bereits seit Anbeginn der türkischen Republik eine besondere Rolle bei der Unterdrückung von Oppositionellen im Land. Das war schon so bei den Pogromen zur Republikgründung und den massenhaften Aburteilungen durch die „Unabhängigkeits-Gerichte“ (İstiklal mahkemeleri). Die Untersuchung dieser Fälle böte Themen für komplette soziologische Ausarbeitungen. Das KCK-Hauptverfahren [KCK: Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans; Dachorganisation der kurdischen Freiheitsbewegung] hingegen wirkt geradezu wie eine Zusammenfassung dieser unzähligen historischen Fälle in der Türkei, bei denen der Justiz eine klare Mission zur Unterdrückung der Opposition aufgetragen worden war.
In diesem Verfahren wurde das freie Denken zu Separatismus, die Opposition zu Terrorismus erklärt. Auf diesem Fundament wurde ein riesiges Verfahren errichtet. Der Separatismusvorwurf wird in der offiziellen Ideologie des türkischen Staates immer wieder aufgewärmt und als Werkzeug zur Verleugnung des kurdischen Volkes eingesetzt. Der Terrorvorwurf hingegen ist nicht viel mehr als ein ideologisches Argument und gern gebrauchtes Etikett. Es handelt sich also um keinen rechtlichen Begriff, sondern einen politischen. Der Begriff Terror wird mit der Bedeutung „erschrecken“ oder „in Schrecken versetzen“ assoziiert. Es handelt sich dabei um ein Mittel, um jegliche Opposition zu unterdrücken. Wenn man die Dimensionen des Terrorismusbegriffs hinzunimmt, also das Ausmaß der Gewaltanwendung, seine Kontinuität und seine Folgen, so kann man nur zu der Schlussfolgerung kommen, dass dieser Vorwurf gegenüber der kurdischen Bevölkerung absolut absurd ist.
Das KCK-Hauptverfahren geht zurück auf eine eingeleitete Untersuchung der Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2007. Am 14. April 2009, also einen Tag, nachdem im Rahmen von Lösungsverhandlungen in der kurdischen Frage ein Waffenstillstand erklärt worden war, wurde diese Untersuchung mit einer weiteren staatsanwaltschaftlichen Ermittlung zusammengelegt und dutzende kurdische Politiker, Rechtsanwälte, Bürgermeister, Menschenrechtler und Beamte wurden festgenommen. Dieses Datum markiert den Beginn von unzähligen Festnahmewellen, die daraufhin unter dem Label „KCK-Operationen“ folgen sollten.
Im Ergebnis wurden rund 10.000 kurdische Aktivisten verhaftet. Die Untersuchungsakten der Festgenommenen wurden von juristischer Stelle in Sammelanklagen zusammengefasst. Das Resultat war im Jahr 2010, also drei Jahre nach Einleitung der ersten Untersuchungen, ein Aktenberg. Die Anklageschrift umfasste letztlich 7.500 Seiten, die Untersuchungsakten gar rund 135.000 Seiten. Das Gericht „überprüfte“ schließlich binnen elf Tagen diese Akten und ließ die Anklage zu. Die Anwälte der Angeklagten haben später ausgerechnet, dass allein für das Umblättern der Seiten in den Akten eine Zeit von 37,5 Stunden, also fünf Arbeitstage, benötigt wird. Folglich hat das Gericht die Anklage zugelassen, ohne die Akten gelesen zu haben. Die Staatsanwaltschaft meisterte es in ihrer Anklageschrift, voneinander völlig unabhängige Personen und deren Arbeit (angeklagt wurden 23 ehemalige und amtierende Bürgermeister, 6 Anwälte, dutzende Parteivorstandsmitglieder, Menschenrechtler, Soziologen u. v. m.) als Tätigkeit für ein und dieselbe (illegale) Organisation darzustellen. Und hierfür wurden alle möglichen irrelevanten und zusammenhanglosen Informationen in die Untersuchungsakten eingespeist. Das Ergebnis war eine Zusammenstellung von Informationen, die weder einen richtigen Anfang noch einen sinnvollen Schluss hatten. Rechtlich betrachtet hatten diese Informationen keinerlei Beweiskraft. Das wurde unzählige Male während des Prozesses zum Ausdruck gebracht. Doch auch wenn in dem insgesamt sieben Jahre andauernden Gerichtsprozess mehrfach Richter ausgetauscht wurden, sind die Anträge der Verteidigung zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens akzeptiert worden. Und das, obwohl selbst die dokumentierten Informationen durch gänzlich illegale Methoden wie rechtswidrige Durchsuchungen, Telefonabhörmaßnahmen und Denunziation zusammengetragen wurden. So gut wie keine von Strafrecht und Strafprozessordnung festgeschriebenen Prozessstandards wurden in diesem Prozess eingehalten. Doch die Beschwerden, die diesbezüglich durch unsere Anwälte vorgebracht wurden, mündeten letztlich lediglich in Disziplinarverfahren gegen ihre eigene Person. Die Richter des Verfahrens, das übrigens an einem Gericht mit Sonderbefugnissen verhandelt wurde, sind vielfach ausgewechselt worden, was daran lag, dass diesem Verfahren eine besondere Bedeutung beigemessen wurde und das Gericht unter großem Druck stand. Denn die politisch Verantwortlichen mischten sich offenkundig in den Prozess ein, was sich an zahlreichen Beispielen festmachen lässt. So erklärte beispielsweise der türkische Regierungssprecher im Jahr 2014, als die Verhandlungen über eine Lösung der kurdischen Frage noch anhielten: „Solange die PKK ihre Waffen nicht niederlegt, wird kein einziger KCK-Gefangener aus der Haft entlassen.“ Allein aus diesem Statement wird deutlich, dass die Angeklagten vom Staat als politische Geiseln festgehalten werden. Es gibt unzählige weitere Statements dieser Art von Vertretern der türkischen Regierung.
Als die Anklageschrift akzeptiert und das Verfahren eröffnet worden war, beharrten die Angeklagten zunächst auf dem Recht, sich in ihrer Muttersprache verteidigen zu dürfen. Da das Gericht dieses Recht nicht einräumte, kam es zunächst drei Jahre lang zu keiner Anhörung der Gefangenen. Die Verweigerung des Rechts auf muttersprachliche Verteidigung wurde durch das Gericht damit begründet, dass es sich beim Kurdischen um eine „nicht verständliche und nicht bekannte Sprache“ handele. Erst im Jahr 2013 wurde den Angeklagten durch eine rechtliche Erneuerung das Recht auf muttersprachliche Verteidigung teilweise zugestanden. Doch egal in welcher Sprache sich die Angeklagten letztlich in dem Verfahren verteidigten, ihre Ausführungen schienen das Gericht nicht sonderlich zu interessieren. Die festgenommenen Angeklagten wurden bis zu fünf Jahre in Haft gehalten, bevor sie ihrem Verfahren schließlich auf freiem Fuß beiwohnen durften. Einige der Angeklagten, die über diesen Zeitraum hinaus in Haft blieben, hatten in den fünf Jahren noch nicht einmal die Gelegenheit, vor Gericht zu Wort zu kommen.
Was zu diesem Verfahren noch im Besonderen erwähnt werden muss, ist die Rolle des Fethullah-Gülen-Ordens, dessen Mitglieder in den Reihen der türkischen Justiz bei der Zusammenstellung der Anklageschriften eine wichtige Rolle spielten, später allerdings selbst ins Visier des türkischen Staates gerieten. Von den Staatsanwälten über die Richter bis hin zur Polizei waren Mitglieder des Gülen-Ordens aktiv, die bei den KCK-Operationen und KCK-Verfahren aktiv mitgewirkt haben. Viele von ihnen wurden in jüngster Zeit allerdings selbst verfolgt, entlassen und teilweise festgenommen und inhaftiert. Die Aussagen bei ihren Vernehmungen sind zum Teil an die Öffentlichkeit gelangt. Interessanterweise haben die Verhaftungen und die Aussagen dieser Personen dazu geführt, dass Verurteilungen und Haftstrafen bei den sogenannten Ergenekon- und Balyoz-Verfahren aufgehoben und diese neu aufgerollt wurden. Begründet wurde diese Entscheidung mit der tragenden Rolle der Gülen-Mitglieder bei den Verfahren. Die einzige Ausnahme bei dieser Praxis stellen die KCK-Operationen und somit auch das KCK-Hauptverfahren dar.
Die erste Untersuchung, die zum KCK-Hauptverfahren eingeleitet worden war, geht zurück auf den Februar 2007. Die Verurteilung erfolgte dann am 28. März 2017. Ganze zehn Jahre dauerte das Ganze also. Und das Ergebnis dessen ist, dass von den 154 Angeklagten insgesamt 99 Personen verurteilt und 55 Personen freigesprochen wurden. Zusammengerechnet hat das Gericht auf die Angeklagten eine Haftzeit von 1.109 Jahren, 10 Monaten und 22 Tagen verteilt. Bezüglich der Freigesprochenen hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt.
Im Ergebnis wurden in diesem Verfahren alle Anträge unserer Verteidigung hinsichtlich der zahlreichen Verfahrensfehler abgelehnt und der Großteil der Angeklagten wurde mit hohen Haftstrafen belegt. In diesem Verfahren, in dem weder nach nationalem noch nach internationalem Maßstab irgendeine Tätigkeit, die der Terrorismusdefinition entsprechen könnte, unter Beweis gestellt werden konnte, wurden Menschen ausschließlich für ihre politische Tätigkeit abgestraft. Das bedeutet, wenn es um die Kurden geht, hat sich in der Türkei nichts geändert. Egal wer die Macht im Staate gerade innehat, die Tradition der Verleugnung und der politischen Verfolgung der Kurden wird fortgesetzt. Die Verurteilungen in diesem Verfahren haben dies erneut unter Beweis gestellt. Dieser Umstand ändert allerdings auch nichts daran, dass diejenigen, die aus der Haft entlassen wurden, genau an jenem Punkt ihre Arbeit fortsetzen werden, an dem sie sie abbrechen mussten.[1]