Am 25. September stimmen die Kurden im Nordirak über die Unabhängigkeit ab.
Am Ergebnis besteht kein Zweifel, wohl aber daran, ob sie wirklich den seit hundert Jahren
versprochenen eigenen Staat erhalten. Von Kendal Nezan
Rund 3,5 Millionen Wähler werden entscheiden, ob die Region Kurdistan und Gebiete ausserhalb ihrer Verwaltung ein unabhängiger Staat werden. Die Organisation des Referendums ist in den drei Gouvernements, die seit 1991 die Autonome Region Kurdistan bilden, kaum problematisch. Alle Bürger besitzen biometrische Identitätskarten, die Wählerlisten sind auf dem neusten Stand. Grössere, aber ebenfalls lösbare Probleme stellen sich in den als «umstritten» bezeichneten Gebieten, die überwiegend von Kurden bewohnt sind und historisch zu Kurdistan gehörten, aber der Regierung in Bagdad unterstellt sind.
Die neue irakische Verfassung, die 2005 durch ein Referendum von 80 Prozent der Wähler gutgeheissen wurde, hielt in Artikel 140 fest, dass die Regierung in Bagdad vor dem 31. Dezember 2007 in den «umstrittenen» Gebieten ein Referendum organisieren werde, damit die betroffenen Wähler frei entscheiden könnten, ob sie der Angliederung an die Region Kurdistan zustimmten oder nicht.
Aber Bagdad hielt sich nicht an diese Verpflichtung. Die Kurden verloren jede Illusion, dass ein geeinter, demokratischer und alle Teile der Bevölkerung einschliessender Irak je möglich sein werde. Eine der letzten Verbindungen zu Bagdad war die der Region Kurdistan zugesprochene finanzielle Zuweisung von 17 Prozent des irakischen Haushalts. Seit Januar 2014 wurde sie nicht mehr bezahlt.
Zwar finanziert der Irak die schiitischen Milizen, die vom Iran kontrolliert werden, weigert sich aber, die kurdischen Peschmerga zu bezahlen. Dieses Geld fliesst an die irakischen Angestellten und Beamten, die in den vom sogenannten Islamischen Staat (IS) besetzten Gebieten zurückgeblieben sind. Für die Verwaltung Kurdistans ist kein Budget vorgesehen. Die Kurden lehnten es ihrerseits ab, sich dem Diktat des schiitischen irakischen Ministerpräsidenten Malik unterzuordnen, und organisierten eigene Ölexporte, um ihre Finanzierung sicherzustellen.
Schon Anfang 2014 schien der Bruch zwischen Irakern und Kurden bevorzustehen. Die kurdische Regierung plante ein Referendum, um die Trennung von Bagdad zu legitimieren. Doch der massive Angriff durch den IS veränderte die Lage. Die Kurden mussten ihr Gebiet verteidigen. Es gelang ihnen unter grossen menschlichen und materiellen Opfern, die ganze kurdische Region im Irak und weitere Gebiete zu befreien. Trotz einer schweren Finanzkrise, verursacht durch die ausbleibenden Zahlungen aus Bagdad, nahmen sie grosszügig 1,8 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene auf. Unter ihnen waren sehr viele sunnitische Araber, die trotz ihres panarabischen Nationalismus lieber Zuflucht bei den Kurden suchten als in den Provinzen der schiitischen Araber im Süden.
Am Ausgang des Referendums vom 25. September besteht kein Zweifel. Bei einer informellen Umfrage sprachen sich vor zwölf Jahren 98 Prozent der Wähler für ein unabhängiges Kurdistan aus. Trotz gewisser interner Reibereien und Spannungen und trotz der Ränkespiele einiger Nachbarstaaten dürfte das Referendum dem Wunsch des kurdischen Volks nach Unabhängigkeit demokratische Legitimität verleihen. Danach werden die kurdischen Behörden mit Bagdad Verhandlungen über eine einvernehmliche, friedliche Trennung aufnehmen.
Eine letzte Chance
Erinnern wir uns daran, dass die Legitimität des kurdischen Anspruchs auf Unabhängigkeit von der internationalen Gemeinschaft bereits vor einem Jahrhundert anerkannt wurde. Im Bestreben, die vom Osmanischen Reich unterdrückten Völker zu emanzipieren, hatten sich die Siegermächte des Ersten Weltkriegs mit dem Vertrag von Sèvres 1920 verpflichtet, ein unabhängiges Kurdistan zu schaffen. Der Vertrag wurde nicht umgesetzt, aber das Versprechen tauchte noch im Entwurf der Völkerbundssatzung auf, die US-Präsident Woodrow Wilson präsentierte. Am Ende jedoch entschieden das britische Empire und Frankreich anders: Sie entwarfen eine neue Karte für den Nahen Osten, auf der das kurdische Volk ignoriert wurde.
1925 wurde der Völkerbund angerufen, über die Zugehörigkeit der osmanischen Provinz Mosul (das heutige irakische Kurdistan) zu entscheiden, die damals unter britischem Mandat stand. Ansprüche auf die Provinz erhoben sowohl die Türkei als auch der neue Staat Irak. Der Völkerbund entsandte eine Mission vor Ort, die den Willen der Bewohner erkunden sollte. Eine überwältigende Mehrheit
sprach sich für einen unabhängigen kurdischen Staat aus. Unter dem Vorwand, der irakische Staat sei ohne das Öl und die landwirtschaftlichen Erträge Kurdistans nicht überlebensfähig, überzeugte das damals federführende britische Reich den Völkerbund, die Provinz dem Irak zuzusprechen. Den Kurden wurde als Abgeltung eine nicht näherdefinierte Autonomie in Aussicht gestellt – ein Versprechen, das nie eingehalten worden ist.
Als Entschädigung für ihre Zustimmung zu dieser ungerechten Entscheidung erhielten Frankreich und die USA von London je 23,75 Prozent der Anteile an der Firma, die das Öl in Kirkuk förderte. Zu diesem Zweck gründete Paris die Compagnie française des Pétroles (CFP), die Vorgängerin von Total. Shell und British Petroleum (BP) erhielten ebenfalls je 23,75 Prozent. Mit den restlichen 5 Prozent wurde der armenischstämmige britische Unterhändler Calouste Gulbenkian zum schwerreichen Mann.
Eigene Stimme: Newroz-Fest in Türkisch-Kurdistan, 2008.
Diese immense Ungerechtigkeit stand am Anfang der unzähligen kurdischen Revolten, die bis Ende der achtzigerer Jahre anhielten. Um sie niederzuschlagen und einen zentralistischen Staat zu schaffen, scheuten die irakischen Regimes weder Massaker und Deportationen noch die Arabisierung der ölreichen kurdischen Provinzen. Um den kurdischen Widerstand «definitiv» zu brechen, liess Saddam Hussein 90 Prozent der kurdischen Dörfer und 20 Städte zerstören und ihre Bewohner in Lagern internieren. In der sogenannten Anfal-Kampagne wurden 1987 und 1988 über 180 000 Kurden getötet.
Trotz jahrzehntelanger Unterdrückung willigten die Kurden auf Aufforderung der anglo-amerikanischen Koalition nach dem Sturz Saddam Husseins ein, dem Zusammenleben im Irak eine letzte Chance zu geben. Ihre Bedingungen: ein demokratischer, föderalistischer, pluralistischer Staat, der die Menschenrechte respektiert und alle Teile der Bevölkerung mit ihren religiösen, linguistischen und kulturellen Identitäten einschliesst. Auf Drängen der kurdischen Vertreter wurden diese Bedingungen in der neuen Verfassung festgeschrieben. Aber das fanatische, proiranische Regime in Bagdad ignoriert sie.
Der Bruch des Verfassungspakts durch die Regierung in Bagdad lässt den Kurden kaum eine andere Wahl als die Trennung. Sie wünschen sich ein einvernehmliches und friedliches Auseinandergehen. Aber es besteht das Risiko, dass die Scheidung konfliktreich wird. Die Hauptgründe dafür sind die Nachbarländer Iran und Türkei und ihnen nahestehende Parteien im Irak. Ohne Einmischung von aussen würde die überwältigende Mehrheit der irakischen Araber der Unabhängigkeit Kurdistans wohl ohne weiteres zustimmen.
Verletztes Streben nach Identität
Das grösste Hindernis für die Entstehung eines unabhängigen Kurdistan ist der Iran. Er fürchtet, dass dies nicht nur die rund zwölf Millionen Kurden im Iran, sondern auch die übrige nichtpersische Bevölkerung des Landes (Aserbaidschaner, Araber, Belutschen und Turkmenen) inspirieren könnte, die 60 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Sie streben alle, wenn nicht nach Unabhängigkeit, so doch nach irgendeiner Form von Autonomie. Teheran befürchtet auch, dass sich ein unabhängiges Kurdistan mit den USA verbünden könnte. In der iranischen Propaganda ist die Rede von einem «zweiten Israel» an der eigenen Grenze. Dennoch ist eine iranische Militärintervention gegen die Kurden unwahrscheinlich. Sie würde zu einem amerikanischen Gegenschlag führen. Möglich hingegen sind destabilisierende Aktionen von Teheran nahestehenden Gruppen.
Die Türkei, irrational nationalistisch, lehnt jeglichen kurdischen Staat ab – sogar wenn er auf einem anderen Planeten angesiedelt würde. Der türkische Staat wurde gegründet mit dem Versprechen von Mustafa Kemal Atatürk, dass die Kurden in einem gemeinsamen Staat mit den Türken über regionale Autonomie verfügen würden. Aber nach dem Vertrag von Lausanne 1923 wurde die Türkei ein exklusiver Staat der türkischen Nation.
Nach dem Genozid an den Armeniern 1915 und der Vertreibung von 1,2 Millionen Griechen aus Anatolien versuchten die Nationalisten, die Kurden zu assimilieren, indem sie ihnen ihre Muttersprache und Kultur verboten. Die Türkei sollte eine Nation mit einer Sprache, einer Kultur und lange auch mit einer einzigen Partei werden, koste es, was es wolle.
Das verletzte das Streben der Kurden nach Identität und – in wachsendem Mass – nach Unabhängigkeit. Seit 1984, dem Beginn der von der kurdischen Arbeiterpartei PKK geleiteten Aufstände, scheute Ankara keine Mittel, sie niederzuschlagen: Zerstörung von 3400 Dörfern, Zwangsumsiedelung einer Zivilbevölkerung von zwei bis drei Millionen Kurden, Ermordung von über 15 000 Intellektuellen, Studenten und Aktivisten durch paramilitärische Gruppen.
Dieser Krieg, der bisher über 50 000 Tote und den türkischen Haushalt mehr als 300 Milliarden Dollar gekostet hat, ist leider noch nicht vorbei. Die Fürsprecher einer politischen Regelung schienen dem Erfolg nahe, aber im Juli 2015 wurden sie von Recep Tayyip Erdogan nach dem relativ schlechten Abschneiden seiner AKP-Partei bei den Parlamentswahlen zurückgepfiffen. Um die Unterstützung der Ultrakonservativen zu erhalten und seine Macht zu konsolidieren, trieb er die Feindseligkeiten gegen die Kurden weiter an. Ankara steckt in einem Dilemma: Lässt es ein unabhängiges irakisches Kurdistan zu, um seine beträchtlichen Erdöl- und Wirtschaftsinteressen dort zu wahren, riskiert es, dass die achtzehn bis zwanzig Millionen türkischen Kurden ähnliche Forderungen erheben. Widersetzt sich die Türkei aber einem künftigen kurdischen Staat, läuft sie Gefahr, einen ihrer letzten Alliierten in der Region zu verlieren, der ausserdem einer ihrer wichtigen Handelspartner ist.
Bis 2008 widersetzte sich die Türkei der Idee einer kurdischen Autonomie im Irak. Sie drohte mehrmals mit militärischen Interventionen und riegelte immer wieder ihre Grenze ab, um die Autonomiebestrebungen zu ersticken. Als diese Politik scheiterte, spielte sie die Karte der wirtschaftlichen Partnerschaft aus, von der beide Seiten profitierten. Danach ist der Irak, genauer gesagt, das irakische Kurdistan, der nach Deutschland zweitgrösste Handelspartner der Türkei, die für ihre Energieversorgung immer mehr auf die Öl- und Gasversorgung aus Kurdistan zählt. Wofür die Türkei sich schliesslich entscheidet, wird sich zweifellos am Verhalten der USA, Russlands und der europäischen Staaten orientieren. Ankara könnte unterdessen im kurdischen Teil Syriens intervenieren, wo sich die Kurden in autonomen Kantonen organisieren.
Schutz der Christen
DieS-Regierung klammert sich noch immer an die «One Iraq Policy» und hofft, dass die Präsenz der Kurden den Irak daran hindern werde, zu einem iranischen Protektorat zu werden. Andere Stimmen im Kongress und unter den Militärs plädieren dafür, das sehr teure Abenteuer Irak zu opfern und die Schaffung eines demokratischen und prowestlichen Staats Kurdistan zu fördern sowie einen Kompromiss mit der Türkei zu finden. Schliesslich läge das neue Kurdistan an der Grenze zum kriegerischen schiitischen Iran.
Aus ähnlichen Gründen sähen die wichtigsten sunnitischen arabischen Länder (Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien, Kuwait etc.), die als Verfechter der arabischen Einheit den kurdischen Einheitsbestrebungen gegenüber lange feindselig gestimmt waren, eine Teilung des proiranischen Iraks nicht ungern. Russland hat wichtige Öl-Interessen in Kurdistan und unterstützte schon 1946 im Iran die Schaffung einer Republik Kurdistan. Es wird der kurdischen Unabhängigkeit zweifellos positiv gesinnt sein. Mit Ausnahme der Briten und der Spanier, die mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der Schotten und Katalanen konfrontiert sind, würden voraussichtlich auch die meisten europäischen Staaten die Unabhängigkeit dieser Kurden anerkennen, die ihre besten regionalen Alliierten im Kampf gegen den Dschihadismus und für den Schutz der Christen sind. So, wie sie auch die Unabhängigkeit Kroatiens, der Slowakei und sogar des kleinen Kosovo anerkannten.
Ein unabhängiges Kurdistan, fast doppelt so gross wie die Schweiz, bevölkert mit 7,5 Millionen Einwohnern und wirtschaftlich lebensfähig, wäre eine historische Etappe in dem langen Kampf für die kurdische Unabhängigkeit, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann und dessen Legitimität bereits 1920 international anerkannt wurde. Die grösste Gemeinschaft ohne Staat, insgesamt über vierzig Millionen Menschen, hätte endlich auf einem Teil ihres Territoriums ihren eigenen Staat und damit eine Stimme im Dialog der Nationen.
Kendal Nezan ist Präsident des Kurdischen Instituts in Paris und Co-Autor von «A People Without a Country» (1980) und «Kurdistan und die Kurden» (1988). Soeben ist sein kurdisch-französisches Wörterbuch mit 85 000 Einträgen erschienen (Riveneuve Editions, Paris).[1]
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