Der Ko-Vorsitzende der PYD, Xerîb Hiso, gibt an, dass die Türkei nicht in der Lage ist zu siegen, daher besteht für sie die Notwendigkeit einer neuen Phase
Während der türkische Staat immer wieder ankündigt, die Guerilla binnen Wochen oder Monaten zu vernichten, steckt seine Armee in einem verlustreichen langandauernden Krieg in Südkurdistan fest. Die Guerilla zeigt immer wieder ihre Fähigkeit, auch im Herzen der Türkei gegen zentrale Einrichtungen des Staates und seiner Kriegsindustrie vorzugehen. Der türkische Staat versucht daher, die Zivilbevölkerung Kurdistan de facto als Geiseln zu nehmen und greift diese an. In letzter Zeit befindet sich speziell Rojava im Fokus der türkischen Attacken. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur ANHA äußert sich der Ko-Vorsitzende der PYD (Partei der demokratischen Einheit), Xerîb Hiso, zu den aktuellen Entwicklungen.
Der PYD-Vorsitzende kritisierte die Türkei scharf und sagte, der türkische Staat setze auf Plünderung und Besetzung und greife die Bevölkerung in Rojava und ihre Institutionen an. Diese Angriffe zeitigten aber keinen Erfolg. Stattdessen habe die Türkei immer mehr an Gewicht im gesamten Nahen Osten eingebüßt.
„Der Wille des Volkes ist stärker als diese Angriffe“
„Der türkische Staat hat immer geglaubt, dass sein eigenes Überleben vom Krieg in Kurdistan abhänge“, betonte Hiso. „Das mag einst eine Lösung gewesen sein, aber es wird in Zukunft nichts mehr bringen. Seit hundert Jahren hat er mit Massakern, Plünderungen und Besetzungen nichts erreicht. Aber er setzt trotzdem beharrlich diese grausame Politik des Faschismus weiter fort. Er spielt im Nahen Osten keine Rolle mehr, ist selbst am Ende und besiegt. Auch im Inneren herrscht Chaos. Die Lösung für die Probleme und Konflikte innerhalb der Türkei liegt nicht außerhalb der Grenzen. Die Angriffe auf unsere Region sind terroristisch und feige. Deshalb werden sie auch nicht mehr lange dauern. Die Zeit des Aushungerns und der Vertreibung von Menschen ist vorbei. Der Wille des Volkes ist stärker als diese Angriffe.“
„Staaten erheben die Stimme für Palästina, aber schweigen zu Kurdistan“
Zum Schweigen der internationalen Gemeinschaft angesichts dieser Angriffe sagte Xerîb Hiso: „Die internationale Gemeinschaft erhebt ihre Stimme für das palästinensische Volk, aber sie schweigt zu den Kurdinnen und Kurden. Das ist einfach nur doppelmoralisch. Der türkische Staat erhebt seine Stimme für Palästina, massakriert aber die Kurden. Das ist große Heuchelei und Lüge.“
„Ein Dialog ist nötig“
Hiso fuhr fort: „Die Türkei und Nordkurdistan brauchen Frieden und Dialog. Die Türkei wird sowohl regional als auch global gesehen großen Schaden erleiden, wenn keine solchen Maßnahmen ergriffen werden. Die Türkei ist dabei, ihre Bedeutung zu verlieren. Die Verantwortlichen im türkischen Staat wissen sehr wohl, dass die Türkei in dieser Phase Schritte zum Dialog unternehmen muss. Sie ist verpflichtet, den Dialog mit den Kurden und allen Segmenten der Gesellschaft der Türkei aufzunehmen. Aber einem Dialog, der nur innerhalb der Türkei stattfindet, wird man nicht trauen. Denn die Türkei hat noch nie einen internen Dialogprozess gestartet und noch nie einen echten Friedensprozess geführt. Es hat immer Besetzungen, Morde und Massaker gegeben. Der türkische Staat hat Gebiete in Syrien, dem Irak, Karabach und Libyen besetzt. Diese Besatzungspolitik hat die Türkei wirtschaftlich, politisch, militärisch und gesellschaftlich geschwächt. Mit diesen Methoden kann der türkische Staat keinen Erfolg haben.“
„Die Türkei verpasst historische Chancen“
In Bezug auf Erklärungen aus Kreisen der AKP/MHP über eine mögliche Gewährung des Rechts auf eine Perspektive auf Freilassung für Abdullah Öcalan und eine Lösung der kurdischen Frage erklärte Hiso: „Es ist nicht klar, inwieweit sich die Regierung diese Worte wirklich zu eigen macht. Gibt es dafür eine Grundlage in der Türkei? Der türkische Staat hat die Grundlage für einen Friedensprozess seit 26 Jahren in Isolationshaft weggeschlossen. Rêber Apo bietet eine historische Chance. Die Türkei verpasst diese Chance. Ohne den Widerstand von Imralı, dem Volk, den Freiheitskämpferinnen und -kämpfern hätte die AKP/MHP diese Worte niemals ausgesprochen.“
„Rêber Apo ist der Ansprechpartner für einen Dialog“
Hiso forderte ein „ernsthaftes Herangehen“ von Seiten der Regierung und fuhr fort: „Wenn die herrschende Regierung der Türkei eine neue Seite aufschlagen will, dann soll sie das tun, der Ansprechpartner für eine Lösung, für Frieden und Dialog ist Rêber Apo.“
„Während Isolation herrscht, kann es keinen Dialog geben“
Am 23. Oktober hatte nach mehr als drei Jahren Incomunicado-Haft ein erster Besuch von Angehörigen bei Öcalan stattgefunden. Hiso kommentierte: „Die Botschaft von Rêber Apo hat in den Herzen aller, die für seine physische Freiheit kämpfen, große Freude ausgelöst. Rêber Apo sagte deutlich, dass die Tür für einen Dialog, für Frieden und neue Schritte offen ist. Wenn Schritte für eine demokratische und friedliche Türkei unternommen werden sollen, muss die alte Politik aufgegeben werden. Die Türkei braucht eine neue Phase. Es hat keinen Sinn, die Isolation aufrechtzuerhalten. Physische Freiheit ist unerlässlich. Während Isolation herrscht, kann es keinen Dialog geben.“
„Die Entwicklungen in der Türkei werden auch Syrien beeinflussen“
Hiso schloss mit Blick auf die Situation in Syrien: „Eine Einigung ist sowohl in der Türkei als auch in Syrien notwendig. Wenn es eine Entwicklung in der Türkei gibt, wird sie sich auch auf Syrien auswirken. So wie es in der Türkei einen Dialogprozess braucht, so braucht es auch in Syrien einen Dialog. Die Regierung in Damaskus will nichts hören und meidet den Dialog. Damaskus und Ankara stecken in einer Sackgasse und sind geschwächt. Wenn das Problem in der Türkei gelöst wird, wird es auch in Syrien gelöst werden. So muss zum Beispiel die Besatzung, welche die Abkommen zwischen der Türkei und Syrien bricht, beendet werden, der Syrienkonflikt muss gelöst werden und alle müssen die Möglichkeit erhalten, nach Hause zurückzukehren. Solange jedoch in der Türkei Chaos herrscht und die Türkei sich nach außen hin aggressiv und expansionistisch verhält, bleibt der Weg zum inneren Dialog und zur Lösung verschlossen.“[1]