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Öcalans Definition des Liberalismus
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Abdullah Öcalan, Gefängnisschriften, Soziologie der Freiheit

Abdullah Öcalan, Gefängnisschriften, Soziologie der Freiheit
Lesetipp der Kurdistan-Report-Redaktion
#Abdullah Öcalan#, Gefängnisschriften, Soziologie der Freiheit, Manifest der demokratischen Zivilisation Band IIIIm Mai 2020 erschien mit »Soziologie der Freiheit« der dritte Band von Abdullah Öcalans »Manifest der demokratischen Zivilisation« im Unrast Verlag. In etwas mehr als drei Jahren (2007–2010) hat Abdullah Öcalan mit dem Manifest der demokratischen Zivilisation ein fünfbändiges Opus Magnum verfasst, in dem er seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus 35 Jahren radikaler Theorie und revolutionärer Praxis zusammenfügt. Nachdem er in den ersten beiden Bänden die Geschichte der Zivilisation von ihren Anfängen bis zur kapitalistischen Moderne neu interpretiert hat, legt Öcalan in dem dritten Band eine Methode für die Lösung der drängendsten Probleme des 21. Jahrhunderts vor: die Soziologie der Freiheit.

Die Ideen und Konzepte darin leisten wichtige Beiträge zur globalen Debatte um einen neuen Sozialismus. Für die kurdische Freiheitsbewegung sind die darin entwickelten Perspektiven nicht nur eine abstrakte Theorie, sondern prägen maßgeblich ihre Politik und Programmatik. So vertritt sie heute die Idee eines demokratischen Sozialismus jenseits von Staat und Macht.

Als stärkste Waffe des globalen kapitalistischen Systems bzw. der kapitalistischen Moderne betrachtet Öcalan hierbei den Liberalismus und schreibt dazu: »Die kapitalistische Moderne bezieht ihre eigentliche Stärke weder aus dem Geld noch aus den Waffen; ihre eigentliche Stärke liegt darin, sämtliche Utopien, einschließlich der jüngsten und stärksten Utopie – der sozialistischen – im eigenen Liberalismus zu ersticken, der jede Farbe annehmen kann und den besten Zauberkünstlern überlegen ist. Solange wir nicht analysieren, wie die kapitalistische Moderne alle Utopien der Menschheit im eigenen Liberalismus erstickt hat, kann selbst die anspruchsvollste Denkschule nicht umhin, bestenfalls zur Dienerin des Kapitalismus zu werden – von einem Kampf gegen ihn ganz zu schweigen.«

Im 20. Jahrhundert waren es vor allem der Realsozialismus, die Sozialdemokratie und die nationalen Befreiungsbewegungen, die Gesellschaftskonzepte jenseits des Kapitalismus umzusetzen versuchten und alle progressiven Bewegungen beeinflussten. Öcalan sieht hierbei den Liberalismus als wesentliches Mittel des kapitalistischen Systems an, die Strömungen die ihn bekämpfen (wie z. B. der Marxismus, Anarchismus, die nationalen Befreiungsbewegungen und die Sozialdemokratie), in den eigenen Dienst zu stellen. Es gilt in diesem Sinne auch für antikapitalistische Bewegungen des 21. Jahrhundert, sich mit der Frage des Liberalismus auseinanderzusetzten, um nicht dieselben Fehler wie in der Vergangenheit zu wiederholen. Öcalan definiert in seinem dritten Band die vier wichtigen ideologischen Varianten des Liberalismus: der Nationalismus, die religiöse Ideologie, der Szientismus und der Sexismus.

Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug zu dieser Thematik:

Der Liberalismus als hegemoniale Ideologie des Systems kann weder in seiner klassischen Form noch als Neoliberalismus Lösungen produzieren. Der Begriff Liberalismus, der in der Wortbedeutung ein Eintreten für Freiheit beinhaltet, ist ein sehr relativer. Was für die eine Person oder Gruppe Freiheit bedeutet, äußert sich für ihren Gegenpart als Sklaverei. Die Gottkönige des Altertums besaßen maximale Freiheit, und als sklavenhaltende Klasse schufen sie ihr Gegenstück. Für die mittelalterliche Aristokratie war Freiheit möglich durch die Knechtschaft breiter Massen von leibeigenen Bäuer*innen. Der Liberalismus der neuzeitlichen Bourgeoisie hingegen ging einher mit der Mindestlohnsklaverei des Proletariats, des Halbproletariats und der anderen werktätigen Gruppen – der neuen Art von Knechten. Während Liberalismus offiziell Freiheit für alle Klassen des Nationalstaates bedeutet, befördert er für die Staatsbürger*innen, die modernen Knechte, Arbeitslosigkeit, unentgeltliche Arbeit, Armut, Hunger, Ungleichheit, das Fehlen von Freiheit und Demokratie. Wir müssen uns absolut klarmachen, dass Liberalismus in Wirklichkeit kein Eintreten für die Freiheit bedeutet. Hegel hielt den Staat für das beste Mittel der Freiheit. Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese Freiheit nur für die Staatsklassen und die Bürokratie gilt. Anders ausgedrückt: was für die Wirtschafts- und Machtmonopole (die Eliten) maximale Freiheit bedeutet, ist für alle zu Anderen gemachten Knechtschaft jeglicher Art.

Es ist wichtig, den Liberalismus als Ideologie zu erkennen. Individualismus und Freiheitsstreben reichen als Definition nicht aus. Als Begriff tauchte der Liberalismus in den Parolen der Französischen Revolution gemeinsam mit Gleichheit und Brüderlichkeit auf; das berühmte »Liberté, Égalité, Fraternité«. Als ein zentristischer Begriff fand er auf der Rechten den Konservativismus, auf der Linken dagegen zunächst die Demokrat*innen, später die Sozialist*innen. Er legte sich das gemäßigte Image zu, ohne die Notwendigkeit von Revolutionen, das System (den kapitalistischen Monopolismus) evolutionär weiterentwickeln zu wollen. Konservative waren gegen jegliche Weiterentwicklung, egal ob als Evolution oder Revolution. Sie verteidigten fanatisch die Monarchie, die Familie und die Kirche. Sozialist*innen und Demokrat*innen dagegen betrachteten Revolutionen als unausweichlich, um die Veränderung zu beschleunigen. Ihr aller gemeinsamer Nenner war jedoch die Moderne. Es gab einige Einsprüche, doch alle hatten eigene Ideen für die Modernisierung. Es genügte, ganz allgemein einen Wandel zu erleben, um modernistisch zu sein. Das moderne Leben – europazentriert, mit Fundamenten aus der Urbanisierung und beschleunigt durch Renaissance, Reformation und Aufklärung – stellte den gemeinsamen Horizont dieser drei Hauptideologien dar. Im Mittelpunkt stand die Frage, wer, welche Ideologie und Partei, welche Methoden und Praktiken, Aktionen und Kriege diesen Horizont am ehesten erreichen würden.

Der Liberalismus analysierte die Situation sehr genau. Er stellte fest, dass die Moderne sich geprägt vom Kapitalismus entwickelte und noch weiter entwickeln könnte, und begann schnell, Ideologien und Strukturen auf der Rechten und der Linken geschickt zu manipulieren. Der Liberalismus teilte sich in Rechts- und Linksliberalismus. Durch den rechten Liberalismus machte er die Konservativen wirkungslos und verwandelte sie in einen Flügel des Liberalismus. Durch den linken Liberalismus nahm er einen Teil der Demokrat*innen und Sozialist*innen ins Schlepptau. So positionierte er sich selbst in der Mitte. In jeder sich verschlimmernden Krise gelang es ihm, jemanden ins Schlepptau zu nehmen und so stärker zu werden. Die Verbürgerlichung von Aristokrat*innen und die Sozialdemokratisierung eines Teils der kompromisslerischen Arbeiter*innen schritt während der Krisenregime voran. Dazu genügte es, einen geringen Teil des Monopolprofits abzugeben. Auf diese Weise machte er die systemgegnerischen Oppositionellen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur unschädlich, sondern reduzierte sie auf Hilfskräfte, um in jeder Situation den krisenhaften Apparat steuern zu können. So wurde die ideologische Hegemonie des Liberalismus errichtet.

Um seine ideologische Hegemonie fortsetzen zu können, profitierte der Liberalismus von vier wichtigen ideologischen Varianten:

1. Den Nationalismus macht er sich effektiv zunutze. Ob bei der Legitimierung von Kriegen nach innen oder außen oder ob bei der Schaffung von Nationen durch die Hand des Staates – der Nationalismus war der Lieblingsverbündete des Liberalismus. So schuf er das erste Glied einer eklektischen Kette. Er sammelte reichlich Erfahrung bei der Überwindung auch schwerster Krisen durch das Anfeuern nationaler Gefühle. Der Nationalismus wurde zu einer heiligen Ideologie erhoben und auf die Ebene einer Religion gestellt. Unter diesem Schleier lassen sich nicht nur Krisen leicht überwinden, sondern gleichzeitig auch die schlimmsten und kaputtesten Ausbeutungssysteme der Monopole verstecken.

2. Der traditionellen religiösen Ideologie wurde die Rolle des Nationalismus zugewiesen. Unter seiner Hegemonie nationalisierte der Liberalismus die traditionellen Religionen, die ihres moralischen und politischen Charakters entledigt wurden. Genauer gesagt: Er machte sie zu Nationalreligionen. Religiöse Gefühle, die in der Gesellschaft tief verwurzelt waren und leicht nationalistisch eingefärbt werden konnten, spielten dieselbe Rolle wie der Nationalismus, ja, sie schweißten noch stärker zusammen. Manchmal wurden beide Ideologien miteinander verschmolzen und so der Aufbau einer Nation auf ethno-religiöser Grundlage versucht. Die Identifikation mit dem Nationalismus gelang besonders leicht im Judentum und im Islam. Doch auch die anderen Religionen (Christentum, fernöstliche Religionen, alte religiöse Traditionen in Afrika) standen nicht zurück und nahmen ähnliche Rollen ein. So führte der Liberalismus der kapitalistischen Zivilisation, die das Erbe der materiellen Kultur der Zivilisation angetreten hatte, das ideell-kulturelle Erbe über den religiösen Kanal zu und integrierte es. Die Rolle der an den Liberalismus angefügten religiös-nationalistischen Ideologien bei der Überwindung von Systemkrisen in ausweglosen Dimensionen dürfen wir nicht ignorieren.

3. Die Ideologie des positivistischen Szientismus, insbesondere in dessen philosophischer Variante, leistete einen starken Beitrag zum Liberalismus. Die positivistische Ideologie machte sich das große Ansehen der Naturwissenschaften zunutze und übte starken Einfluss sowohl auf rechte als auch auf linke Ideologien aus. Nun wurden Ideologien leicht mit dem Etikett der Wissenschaftlichkeit ausgezeichnet, was zu massiven Verirrungen führte. Insbesondere alle linken ideologischen Aufbrüche waren davon geprägt. Der Realsozialismus war in dieser Hinsicht führend. Durch positivistischen Szientismus geriet man in die Falle des kapitalistischen Modernismus. Auf der Rechten war der Faschismus die herausragende Strömung, die ihre Kraft aus dem positivistischen Szientismus zog. Somit bot der Positivismus dem Liberalismus ideologische Optionen von der extremsten Linken bis zur extremsten Rechten. Wo und wann immer es nötig war, konnte der Liberalismus bei der Überwindung struktureller Systemkrisen maximal davon profitieren, diese Optionen zu adaptieren und sich ihrer zu bedienen.

4. Der Sexismus wurde im Zeitalter des Liberalismus mehr als je zuvor als ideologisches Element verfeinert und benutzt. Der Liberalismus übernahm die sexistische Gesellschaft, begnügte sich aber nicht damit, die Frau nur in eine unbezahlte Hausarbeiterin zu verwandeln. Es lohnte sich mehr, die Frau als Sexobjekt zur Ware zu machen und auf dem Markt feilzubieten. Beim Mann war es nur Arbeitskraft, die Frau dagegen wurde mit ihrem ganzen Körper und ihrer ganzen Seele zur Ware gemacht. Eigentlich wurde so die gefährlichste Art der Sklaverei geschaffen. ›Ehefrau des Mannes‹ ist zwar kein positives Attribut, bezeichnet jedoch nur eine begrenzte Ausbeutung. Doch mit der gesamten Persönlichkeit zur Ware zu werden, ist eine schlimmere Sklaverei als die Sklaverei der Pharaonen. In die Sklaverei aller zu geraten, ist um ein Vielfaches gefährlicher, als Sklavin eines Staates oder einer Person zu sein. Dies ist die Falle, welche die Moderne der Frau gestellt hat. Die Frau, die sich anscheinend auf die Freiheit zubewegt, wird zum Objekt der widerlichsten Ausbeutung herabgewürdigt. Von der Reklame bis zum Sex- und Pornografieobjekt ist die Frau zum wesentlichen Objekt der Ausbeutung gemacht worden. Ich kann ohne Weiteres sagen, dass der Frau die schwerste Last aufgebürdet wird, um den Kapitalismus aufrechtzuerhalten.

Bei der Vermehrung von Ausbeutung und Macht spielt die Frau eine strategische Rolle für das System. Der Mann als Repräsentant des Staates in der Familie hält sich für verantwortlich und zuständig, sowohl die Ausbeutung der Frau als auch die Macht über sie zu vergrößern. Indem er den traditionellen Druck auf die Frau ausweitet, lässt er jeden Mann an der Macht teilhaben. Auf diese Weise verfällt die Gesellschaft in das Syndrom eines maximalen zur-Macht-Werdens. Der Status der Frau gibt der patriarchalen Gesellschaft das Gefühl und die Idee grenzenloser Macht. Auf der anderen Seite lässt man für alles Negative – von der Entstehung kompromisslerischer Arbeiter*innen bis zur Arbeitslosigkeit, von der unbezahlten bis zur minimal entlohnten Arbeit – die werktätigen Frauen bezahlen; die Frau an sich! Die eklektizistisch-sexistische Ideologie des Liberalismus stellt dies nicht nur erst fest und dann anders dar; er entwickelt aus dieser Situation auch noch ideologische Varianten speziell für Frauen. Das ist so etwas wie sich die eigene Sklaverei eigenhändig anzueignen. Wir können feststellen, dass das System durch die ideologische und materielle Ausnutzung der Frau nicht nur schwerste Krisen überwindet, sondern auch die eigene Existenz sichert und garantiert. Die Frauen sind sowohl die älteste als auch die jüngste kolonialisierte Nation der Zivilisationsgeschichte im Allgemeinen und der kapitalistischen Moderne im Besonderen. Wenn wir also eine Krisensituation erleben, die sich nicht aufrechterhalten lässt, so hat die Kolonialisierung der Frau daran wesentlichen Anteil.

Das globale kapitalistische System erlebt heute unter der Hegemonie der globalen Finanzmonopole neben der allgemeinen systemischen Krise gleichzeitig Krisen, die speziell die Finanzen betreffen. Die allgemeine Depression des Systems (aufgrund der Wirtschaftsfeindlichkeit) vermengt sich mit Krisen speziell des Finanzsektors (Ablösung des Geldes vom Gold und sogar oft vom Dollar und seine Repräsentation durch verschiedene virtuelle Argumente wie Aktien und Anleihen) und verläuft damit tiefer als je zuvor in der Geschichte. Bisher hatte das System Krisen im Wesentlichen auf zwei Wegen überwunden: Erstens durch die materiellen Zwangsapparate der ständig wachsenden Macht und des Nationalstaates. Dazu gehören Kriege aller Art, Gefängnisse, Irrenanstalten, Krankenhäuser, Folter, Ghettos und höchstgefährliche Genozide und Soziozide. Zweitens durch die ständig aneinander angefügten und erweiterten Hegemonieapparate der liberalen Ideologie. Das ideologische Zentrum bildet der Liberalismus; die Erweiterungen sind Nationalismen, Religionismen, Szientismen und Sexismen. Ihre Instrumente sind Schulen, Kasernen, Gotteshäuser, Medienorgane, Universitäten und zuletzt Internet-Netzwerke. Hinzufügen müssen wir noch, dass die Kunst zur Kulturindustrie gemacht wurde.

Doch selbst gewöhnliche Wissenschaftler*innen stimmen zu, dass beide Wege nicht Lösungen produzieren, sondern ein Krisenmanagement entwickeln. Depressionen und Krisen lassen sich nicht einmal überwinden, wie es früher der Fall war. Im Gegenteil, Depressionen und Krisen, die früher die Ausnahme waren, sind zu einem Dauerzustand geworden; normale Zeiten dagegen sind die Ausnahme. Zwar liegen Depressionselemente am Fundament der Zivilisationssysteme, doch war die menschliche Gesellschaft noch nie Zeugin einer derart schweren Depression. Wenn Gesellschaften fortbestehen wollen, können sie Krisenmanagement nicht lange ertragen. Entweder zerfallen sie und verstreuen sich, oder sie widerstehen, entwickeln neue Systeme und überwinden die Krise. In solch einer Zeit leben wir.

Aus: Abdullah Öcalan, Gefängnisschriften, Soziologie der Freiheit, Manifest der demokratischen Zivilisation Band III, Kapitel: Zivilisation, Moderne und die Frage der Krise, f) Ideologie, S.: 360–364.[1]
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