69 Nobelpreisträger:innen fordern in einem Brief Einrichtungen des Europarates und den UN-Menschenrechtsausschuss auf, sich für ein Ende der Isolation #Abdullah Öcalan# s, seine Freiheit und die Aufnahme von Friedensverhandlungen mit ihm einzusetzen.
Seit mehr als 25 Jahren sitzt der Begründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan unter schwierigsten Bedingungen auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in politischer Geiselhaft. 69 Nobelpreisträger:innen quer durch alle Disziplinen fordern deshalb das Ministerkomitee des Europarats, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) und den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (UN) zum Handeln auf. Den Institutionen obliegt die Überwachung der menschenrechtlichen Verantwortung von Staaten, darunter die Untersuchung der Haftbedingungen in Gefängnissen. In einem Brief – versandt von der Vorsitzenden der EU Turkey Civic Commission (EUTCC) Kariane Westrheim – bringen die Unterzeichnenden ihre „anhaltende und wachsende Besorgnis“ über die Bedingungen der Isolation zum Ausdruck, unter denen Öcalan trotz beharrlicher Bemühungen seiner Familie und seiner Rechtsvertretung seit Jahren festgehalten wird.
Seit 2021 kein Lebenszeichen mehr
Öcalan war am 15. Februar 1999 aus der griechischen Botschaft in der kenianischen Hauptstadt Nairobi entführt und völkerrechtswidrig in die Türkei verschleppt worden. Er gilt als Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung und befindet sich, seit die gegen ihn verhängte Todesstrafe im Jahr 2002 in lebenslängliche Haft umgewandelt wurde, in einer immer wieder nur kurz unterbrochenen Isolationshaft. Er gilt nach wie vor als führender Stratege und wichtigster politischer Repräsentant der kurdischen Freiheitsbewegung. Mehrfach initiierte er einseitige Waffenstillstände der Guerilla und lieferte als Verhandlungsführer der PKK konstruktive Vorschläge für eine demokratische und politische Lösung der Kurdistan-Frage bei Dialogprozessen mit dem Staat.
Während der letzten Gesprächsrunde zwischen 2013 bis 2015 ermöglichte die türkische Regierung der „Imrali-Delegation“, die sich aus Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zusammensetzte, regelmäßige Besuche auf Imrali, um in den Verhandlungen zwischen der PKK-Leitung in den Bergen Kurdistans und der Regierung in Ankara als Vermittler zu wirken. Doch 2015 kündigte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan den Dialogprozess mit Öcalan einseitig auf und ging auf den Vernichtungskrieg gegen die kurdische Bewegung über. Seitdem eskaliert die Militärgewalt in Kurdistan immer mehr und Öcalan befindet sich in nahezu vollständiger Isolation.
Schon seit 2011 verwehrte die türkische Justiz seinem Anwaltsteam einen regelmäßigen Zugang zu Öcalan. Acht Jahre später gelang es einer von der kurdischen Politikerin Leyla Güven angeführten Hungerstreikbewegung, das Kontaktverbot vorübergehend zu durchbrechen und fünf Anwaltsbesuche durchzusetzen, der letzte davon im August 2019. Der letzte Familienbesuch auf der Insel wurde im März 2020 abgesegnet. Die Isolation im Imrali-Gefängnis wurde seither auf das Niveau der totalen Incommunicado-Haft getrieben. Entgegen der europäischen Rechtsprechung, mehrmaligen Aufforderungen des UN-Menschenrechtsausschusses und einer Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist der türkische Staat nicht bereit, die auf Imrali praktizierte Isolation zu beenden. Nach einem kurzen und aus unbekannten Gründen unterbrochenen Telefonat mit seinem Bruder Mehmet am 25. März 2021 hatte Abdullah Öcalan keinen Kontakt mehr zur Außenwelt.
Garantierte Rechte im Fall Öcalan bedeutungslos
„Die Besorgnis der Nobelpreisträger:innen, die diesen offenen Brief unterzeichnet haben - und anderer in der gesamten internationalen Gemeinschaft - ergibt sich nicht nur aus Abdullah Öcalans Isolation und den ständigen Verletzungen seiner Rechte, sondern auch aus dem offensichtlichen Mangel an sinnvollen Bemühungen der angesprochenen europäischen Einrichtungen sowie des UN-Menschenrechtsausschusses in seinem Namen. Obwohl seine Rechte durch die türkische Verfassung und die innerstaatliche Gesetzgebung, durch Statuten und Verordnungen der Europäischen Union und durch internationales Recht garantiert sind, scheint nichts davon von Bedeutung zu sein“, kritisieren die Unterzeichnenden, darunter die US-amerikanische Friedensnobelpreisträgerin Jody Williams, die den Brief initiierte, die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und der ungarische Nobelpreisträger für Physik, Ferenc Krausz.
Weiter heißt es in dem Brief: „In dem Bemühen, Öcalans Isolationshaft zu beenden, wandten sich seine Anwälte am 29. Juli 2022 an den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (OHCHR), als letztes Mittel, da der innerstaatliche Rechtsweg, einschließlich des türkischen Verfassungsgerichts, ausgeschöpft war. Sie beantragten außerdem eine einstweilige Verfügung gegen die Beschränkung, die jede Art von Kommunikation mit Herrn Öcalan verhindert. Das OHCHR forderte die Türkei auf, die Isolationshaft zu beenden und ihm sofortigen und uneingeschränkten Zugang zu seinen Anwälten zu gewähren. Anstatt sich an die Anordnung zu halten, verteidigte die türkische Regierung in ihren Antworten an den Ausschuss diese Verbote ohne jegliche rechtliche Grundlage. Das OHCHR hat keine weiteren Schritte in seinem Namen unternommen.
Von den drei hier angesprochenen europäischen Einrichtungen hatte das CPT den meisten Zugang zum Imrali-Gefängnis und seinen Gefangenen und hat 30 Berichte über seine Besuche dort verfasst. Trotzdem ist unklar, welche Auswirkungen seine Besuche und Berichte auf die Behandlung von Öcalan hatten. So gab das CPT zwar bekannt, dass es das Gefängnis im September 2022 besucht hat, verweigerte aber bei einem anschließenden Treffen mit den Anwälten des Gefangenen die Herausgabe von Informationen.
Nur drei von 30 CPT-Berichten zur Türkei veröffentlicht
Aufgrund des zunehmenden internationalen Drucks bestätigte das CPT schließlich in einer Pressemitteilung vom 23. Februar 2024, dass seine Mitglieder Herrn Öcalan und drei weitere Gefangene, die während des Besuchs im Jahr 2022 dort festgehalten wurden, gesehen und befragt haben. Obwohl das Komitee im Sommer 2023 einen Bericht über diesen Besuch fertiggestellt hatte, genehmigte die türkische Regierung dessen Veröffentlichung nicht. In den 25 Jahren der Isolation von Herrn Öcalan in Imrali wurden nur drei von 30 CPT-Berichten zur Veröffentlichung freigegeben.
Die Tatsache, dass die Türkei die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses jüngsten Berichts verweigert hat, ist besonders besorgniserregend, weil das CPT in seinem letzten Bericht nichts Positives über die Behandlung der Gefangenen in Imrali zu sagen hatte. Darüber hinaus ist das CPT berechtigt, ein Verfahren einzuleiten, um seine Beobachtungen ohne Zustimmung der Regierung zu veröffentlichen. Es kann auch Maßnahmen gegen Staaten einleiten, die seinen Empfehlungen zu den Haftbedingungen und der Behandlung von Gefangenen nicht nachkommen. Doch der Ausschuss hat diese Schritte nicht unternommen. All dies wirft die Frage auf, wen das CPT schützt? Den Staat selbst oder die Menschen, deren Rechte zu verteidigen das CPT verpflichtet ist?
Die gleiche Frage könnte man dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellen, der feststellte, dass die 2014 gegen Öcalan verhängte verschärfte lebenslange Haftstrafe gegen das Folterverbot verstößt und dass einige Gesetzesänderungen vorgenommen werden sollten. Das Ministerkomitee hat die Aufgabe, die Umsetzung der EGMR-Entscheidungen zu überwachen und sicherzustellen. Die Türkei hat diesen Beschluss nicht umgesetzt, doch das Ministerkomitee hat dieses Thema erst 2021 und damit sieben Jahre später, auf seine Tagesordnung gesetzt, bisher aber keine wirksamen Maßnahmen zu seiner Umsetzung ergriffen.
Wiederaufnahme der ausgesetzten Verhandlungen
Wir rufen alle diese Gremien auf, ihren Verpflichtungen zum Schutz der Rechte von Abdullah Öcalan nachzukommen. Präsident Erdoğan hat selbst erkannt, dass der einzige Weg zum Frieden zwischen dem türkischen und dem kurdischen Volk über den Dialog und die Verhandlungen mit Abdullah Öcalan führt, wie dies während der Osloer Gespräche (2009-2011) und des Imrali-Prozesses (2013-2015) deutlich wurde. Auch wenn die Verhandlungen damals keine Früchte trugen, ist die Tatsache, dass sie stattfanden, ein klares Zeichen dafür, dass Verhandlungen der richtige Weg sind und dass sie mit Öcalan stattfinden müssen. Wir fordern seine Freilassung aus Imrali und die Wiederaufnahme der ausgesetzten Verhandlungen. Die Menschen in der Welt wollen Frieden und eine sichere Zukunft, und wir schließen uns diesem Wunsch an.“
Unterzeichnende
Peter Agre (USA), Nobelpreis für Chemie 2003
Thomas R. Cech (USA), Nobelpreis für Chemie 1989
Martin Chalfie (USA), Nobelpreis für Chemie 2008
Aaron Ciechanover (Israel), Nobelpreis für Chemie 2004
Johann Deisenhofer (Deutschland), Nobelpreis für Chemie 1988
Gerhard Ertl (Deutschland), Nobelpreis für Chemie 2007
Joachim Frank (Deutschland+USA), Nobelpreis für Chemie 2017
Walter Gilbert (USA), Nobelpreis für Chemie 1980
Alan Heeger (USA), Nobelpreis für Chemie 2000
Richard Henderson (UK), Nobelpreis für Chemie 2017
Robert Huber (Deutschland), Nobelpreis für Chemie 1988
Martin Karplus (USA), Nobelpreis für Chemie 2013
Roger D. Kornberg (USA), Nobelpreis für Chemie 2006
Yuan T. Lee (Japan), Nobelpreis für Chemie 1986
Michael Levitt (USA+Israel+UK), Nobelpreis für Chemie 2013
Hartmut Michel (Deutschland), Nobelpreis für Chemie 1988
Paul L. Modrich (USA), Nobelpreis für Chemie 2015
John C. Polanyi (Kanada), Nobelpreis für Chemie 1986
Jean-Pierre Sauvage (Frankreich), Nobelpreis für Chemie 2016
Richard R. Schrock (USA), Nobelpreis für Chemie 2005
Sir James Fraser Stoddart (USA+UK), Nobelpreis für Chemie 2016
Arieh Warshel (Israel), Nobelpreis für Chemie 2013
Sir Oliver Hart (USA+UK), Nobelpreis für Wirtschaft 2016
Finn E. Kydland (Norwegen), Nobelpreis für Wirtschaft 2004
Eric S. Maskin (USA), Nobelpreis für Wirtschaft 2007
Edmund S. Phelps (USA), Nobelpreis für Wirtschaft 2006
J. M. Coetzee (Südafrika), Nobelpreis für Literatur 2003
Elfriede Jelinek (Österreich), Nobelpreis für Literatur 2004
Herta Müller (Deutschland), Nobelpreis für Literatur 2009
Orhan Pamuk (Türkei), Nobelpreis für Literatur 2006
Wole Soyinka (Nigeria), Nobelpreis für Literatur 1986
Harvey J. Alter (USA), Nobelpreis für Medizin 2020
Andrew Z. Fire (USA), Nobelpreis für Medizin 2006
H. Robert Horvitz (USA), Nobelpreis für Medizin 2002
Tim Hunt (UK), Nobelpreis für Medizin 2001
Louis J. Ignarro (USA), Nobelpreis für Medizin 1998
Barry J. Marshall (Australien), Nobelpreis für Medizin 2005
Ardem Patapoutian (Libanon+USA), Nobelpreis für Medizin 2021
Sir Peter J. Ratcliffe (UK), Nobelpreis für Medizin 2019
Charles M. Rice (USA), Nobelpreis für Medizin 2020
Sir Richard J. Roberts (USA+UK), Nobelpreis für Medizin 1993
Michael Rosbash (USA), Nobelpreis für Medizin 2017
Gregg L. Semenza (USA), Nobelpreis für Medizin 2019
Jack W. Szostak (UK+USA), Nobelpreis für Medizin 2009
Mairead Corrigan-Maguire (Irland), Friedensnobelpreis 1976
Shirin Ebadi (USA), Friedensnobelpreis 2003
Adolfo Pérez Esquivel (Argentinien), Friedensnobelpreis 1980
Dmitry Muratov (Russland), Friedensnobelpreis 2021
Oscar Arias Sanchez (Costa Rica), Friedensnobelpreis 1987
Kailash Satyarthi (Indien), Friedensnobelpreis 2014
Rigoberta Menchú Tum (Guatemala), Friedensnobelpreis 1992
Jody Williams (USA), Friedensnobelpreis 1997
Barry Clark Barish (USA), Nobelpreis für Physik 2017
J. Georg Bednorz (Deutschland), Nobelpreis für Physik 1987
Steven Chu (USA), Nobelpreis für Physik 1997
Albert Fert (Frankreich), Nobelpreis für Physik 2007
Sheldon Glashow (USA), Nobelpreis für Physik 1979
David J. Gross (USA), Nobelpreis für Physik 2004
Serge Haroche (Frankreich), Nobelpreis für Physik 2012
Gerardus 't Hooft (Niederlande), Nobelpreis für Physik 1999
Takaaki Kajita (Japan), Nobelpreis für Physik 2015
Ferenc Krausz (Österreich), Nobelpreis für Physik 2023
John C. Mather (USA), Nobelpreis für Physik 2006
Michel Mayor (Schweiz), Nobelpreis für Physik 2019
Konstantin Novoselov (UK), Nobelpreis für Physik 2010
Giorgio Parisi (Italien), Nobelpreis für Physik 2021
Roger Penrose (UK), Nobelpreis für Physik 2020
Robert Woodrow Wilson (USA), Nobelpreis für Physik 1978
David J. Wineland (USA), Nobelpreis für Physik 2012
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