In der Kollektivgemeinde Khatare im Nordirak, nahe der Stadt Duhok, erinnern die Êzîden in diesen Tagen an eines der furchtbarsten Massaker in der êzîdîschen Geschichte. Im März 1832 überfiel der kurdische Fürst Mohammed Rawanduz die Êzîden im Sheikhan-Gebiet. Seinen Vernichtungsfeldzug begann der Einäugige Fürst (kur. Mîrê Kor), wie er wegen einer Sehbehinderung auf einem Auge genannt wird, gegen die Êzîden in der Gemeinde Khatare. Dort gedenken die Menschen alljährlich mit dem Entzünden von Lichtern der Getöteten.
Am 9. März 1832 drang der kurdische Fürst mit seiner mächtigen Armee von Mossul kommend in die Sheikhan-Region ein und erreichte zunächst die Gemeinde Khatare, die zu dieser Zeit noch zu Sheikhan gehörte. Tausende Menschen wurden getötet, Frauen und Kinder versklavt. Eine Woche später, am 15. März 1832, massakrierten die Truppen des Einäugigen Fürsten über 300 Christen in Alqosh. Dieses Ereignis haben die den Êzîden eng verbundenen Christen in Alqosh in einem zeitgenössischen Gedicht schriftlich festgehalten. Im dem Gedicht wird das Massaker in Khatare wie folgt beschrieben:
„Sein Name war Mohammed, er war grausam zu Jedem
Als er Mosul erreichte, zitterten die Menschen vor Angst
Er war untätig, doch bei der Rückkehr verübte er Grausames
Er ist wegen den Êzîden gekommen, die flüchteten
Als er zurückkehrte, umzingelte er Khatare und ließ niemanden am Leben
Alle Männer wurden getötet, die Frauen haben sie für sich genommen“
Viele der ältere Dorfbewohner in Khatare, deren Großeltern als Kinder dieses Massaker überlebten, berichteten, dass nahezu die gesamte Bevölkerung von Khatare ermordet oder versklavt wurde. Nur jene Bewohner, die während dem Massaker außerhalb ihres Dorfes in Städten wie Mosul arbeiteten, überlebten den Angriff.
Auch europäische Reisende, die einige Jahre nach dem Massaker die Gegend bereisten, berichteten von diesem Ereignis. Sechs Jahre nach dem Massaker berichtete so etwa ein europäischer Reisender, dass in Khatare, dessen Einwohnerzahl einst über Zehntausend Menschen zählte, keine tausend Êzîden mehr lebten.
Das Khatare-Massaker war nur der Beginn des sogenannten „Soran-Massakers“: Die kurdischen Stämme, die unter dem Fürsten von Soran vereint wurden, begannen ihren Vernichtungsfeldzug gegen die Êzîden in Sheikhan gemeinsam. Mehrere zehntausende Êzîden wurden getötet, zehntausende Frauen und Kinder wurden verschleppt und versklavt. Für sein Vorhaben ließ sich der tiefreligiöse Muslim Mohammed Rawanduz islamische Rechtsgutachten – Fatwas – von zwei kurdischen Gelehrten ausstellen, die die Tötung und Versklavung der Êzîden religiös legitimierten. So konnte Rawanduz zahlreiche muslimisch-kurdische Stämme unter seiner Flagge vereinen und für den Krieg gegen die Êzîden gewinnen.
Prof. Dr. Celîlê Celil schreibt zu den Ereignissen: „[…] im Frühling 1832 überquerten über 50.000 Soldaten [des Muhammed Pascha von Rewandûz] den großen Zab und gelangten zu den Ortschaften der Êzîden. Sie töteten viele von ihnen, die Überlebenden flüchteten. Einige von ihnen in die Berge von Dschudi, Tur Abdin und Sindschar, andere wiederum auf die Gipfel der anliegenden Hügel, in Höhlen und Tälern, weitere versuchten in Richtung Mosul zu flüchten. Der Gouverneur von Mosul aber fürchtete den Fürst Mîrê Kor und zerstörte deshalb die Brücke nach Mosul, sodass auch die Êzîden den Fluss nach Mosul nicht überqueren konnten. Die Soldaten von Rewandûz holten sie an den Hügeln von Qoyinceq ein und töten in einigen Tagen alle Êzîden. Die Êzîden äußerten mehrfach den Wunsch, mit dem Fürst Rewandûz Gespräche führen zu wollen, aber er lehnte es ab. Er forderte seine Soldaten auf, den Krieg [gegen die Êzîden] fortzusetzen, solange, bis kein einziger Êzîde übrig bliebe. Sie töten nicht nur, sondern schütteten die Wasserbrunnen zu und steckten die Bäume in Brand. Letztlich schnitt er die [Êzîden] von der Außenwelt ab.“
Der êzîdische Fürst Mir Ali Beg versuchte mit seinen Kämpfern die kurdischen Angreifer zu stoppen, war den Truppen des Rawanduz jedoch hoffnungslos unterlegen. Mir Ali Beg geriet in Gefangenschaft. Unter Folter sollte er zum Islam übertreten. Ali Beg weigerte sich und wurde anschließend ermordet.
Das Massaker in Khatare ist tief im Bewusstsein der Nachfahren der êzîdischen Dorfbewohner verankert; jedes Kind kennt hier die Gräueltaten des Einäugigen Fürsten.[1]