Der Ökonom Özgür Müftüoğlu spricht von einer bevorstehenden weiteren Vertiefung der Armut für große Teile der Bevölkerung in der Türkei und wirft den Gewerkschaften vor, sich mit dem System arrangiert zu haben.
Die neue Wirtschaftsführung der AKP-Regierung beteuert, ebenso wie ihre Vorgänger, den „Kampf gegen die Inflation“. Dennoch bleibt die Inflation hoch und die Lebenshaltungskosten in der Türkei steigen durch aggressive Zinserhöhungen, neue Steuern und Verteuerungen Tag für Tag an. Die im Juli in Kraft getretenen Tarifverträge und zusätzlichen Lohnerhöhungen bleiben weit hinter den steigenden Lebenshaltungskosten zurück.
Hungergrenze steigt immer weiter
Laut den Ergebnissen einer monatlichen Erhebung des Gewerkschaftsverbands Türk-İş im August 2023 stieg die Hungergrenze für eine vierköpfige Familie auf 12.198 Lira (ca. 421 Euro). Die Armutsgrenze wurde mit 39.733 Lira (ca. 1337 Euro) berechnet. Die „Lebenshaltungskosten“ eines alleinstehenden Arbeitnehmers liegen bei 15.813 Lira (ca. 546 Euro) pro Monat. Infolge dieser beunruhigenden Entwicklung und der rasanten Inflation kam es in vielen Betrieben, insbesondere in Dîlok (tr. Antep), ähnlich wie bereits im Januar 2022, zu Protesten und Arbeitsniederlegungen. Sogar Beschäftigte im Gesundheitswesen legten aus Protest gegen ausbleibende Lohnerhöhungen ihre Arbeit für einen Tag nieder, da die für öffentliche Bedienstete vorgesehenen Lohnerhöhungen nicht realisiert wurden.
Mindestlohn unterhalb der Hungergrenze
Der Ökonom Özgür Müftüoğlu bewertet diese Entwicklungen im Gespräch mit ANF. Er betont, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen, in denen die Inflation steigt und die Kaufkraft abnimmt, vermehrter Protest notwendig ist. Stattdessen gebe es in der Türkei, insbesondere in Bezug auf Verteuerung, nur wenige Proteste: „Der rasche Anstieg der Inflation und der rapide Rückgang der Kaufkraft haben zu einer dramatischen Verarmung geführt. Die Türkei verzeichnet derzeit den weltweit schnellsten Anstieg der Wohnungs- und Lebensmittelpreise. Die steigenden Kosten für Wohnen, Lebensmittel, Gesundheitsversorgung und Bildung stellen schwerwiegende Probleme dar. Diese Verarmung führt dazu, dass die Arbeiter:innen vermehrt in Konkurrenz zueinander stehen. Die Menschen fürchten den Verlust des wenigen, was sie haben. Dies zwingt einige Arbeiter:innen dazu, unter immer schlechteren Bedingungen zu arbeiten. Die Löhne sinken weiter. Der sogenannte Mindestlohn liegt unterhalb der Hungergrenze. Trotzdem macht dieser Mindestlohn mittlerweile fast 50 Prozent oder sogar mehr des durchschnittlichen Arbeitseinkommens aus. Ein beträchtlicher Teil der Arbeitnehmenden arbeitet mittlerweile sogar unterhalb der Hungergrenze; die Rentner nicht einmal eingerechnet, da sie sich am untersten Ende der Skala befinden.
„Protestbereitschaft in Bezug auf Verteuerung ist in der Türkei gering“
In solch einer Lage sind Proteste nur natürlich. In vergleichbaren Situationen führen Einkommensverluste, verschlechterte Arbeitsbedingungen und steigende Ausgaben zu sozialen Unruhen. In einigen Ländern ist dieser Effekt stärker spürbar. In der Türkei hingegen bleibt die Bereitschaft zu Protesten aufgrund der erhöhten Ausgaben offensichtlich begrenzt. In anderen Ländern, wie beispielsweise in Lateinamerika, führen steigende Treibstoff- und Lebensmittelpreise zu ernsthaften sozialen Auseinandersetzungen. In der Türkei gibt es bisher keine derartige Mobilisierung. Dies ist auf verschiedene soziologische Gründe zurückzuführen. Die AKP kam an die Macht, gestützt auf die Armut. Seitdem sie die Kommunalverwaltungen übernommen hat, setzt sie nicht auf ein Sozialprogramm zur Garantie sozialer Rechte, sondern auf ein glaubensbasiertes Almosen-System. Dies stellt meiner Meinung nach den wichtigsten Faktor ihrer 21-jährigen Regierungszeit dar. Daher sind solche Proteste in der Türkei weniger stark ausgeprägt.
„Proteste finden außerhalb gewerkschaftlicher Organisierung statt“
Müftüoğlu hebt hervor, dass einige der derzeitigen Proteste, ähnlich wie im Jahr 2022, an eher unorganisierten Orten stattfinden. Er prognostiziert jedoch, dass Arbeiter:innen aufgrund der zunehmenden Armut sich von der Umklammerung bürokratischer Gewerkschaften lösen und zu einer klassenbasierten Organisation übergehen werden: „Der Januar 2022 war von Arbeiterprotesten geprägt. Damals kam es jedoch entgegen unserer Erwartungen nicht zu Widerstand im Metallsektor, wo wir die Gewerkschaften für stärker und besser organisiert hielten. Im Gegenteil, es wurde dort ein Weg eingeschlagen, um sich mit dem System zu arrangieren und zu versöhnen und, ehrlich gesagt, den Schwung zu mindern und den Druck zu verringern.
Heute haben wir den Punkt erreicht, an dem es in Antep zu Kämpfen kommt, besonders in den Industriestandorten, wo die Organisierung behindert wird. Auf der anderen Seite gibt es Kämpfe, bei denen zusätzliche Lohnerhöhungen gefordert werden, da die Menschen entweder ihre Löhne nicht rechtzeitig erhalten oder ihre Löhne aufgrund der hohen Inflation sehr niedrig sind. Ähnlich wie im Januar 2022 sind es nicht die großen Organisationen, nicht die großen Gewerkschaften, die kämpfen, sondern es sind selbstorganisierte Kämpfe, die von den Arbeiter:innen selbst ausgehen und deren Stimmen immer lauter werden.
„Gewerkschaften kämpfen nicht ernsthaft“
Wir beobachten auch die Tarifverträge im Metallsektor genau, die etwa 150–160.000 Arbeiter:innen betreffen. Dort wird von einer vorübergehenden Erhöhung um etwa 30 Prozent gesprochen. Diese Erhöhung wird jedoch gestattet und später wieder abgezogen werden. Mit anderen Worten, das, was jetzt gegeben wird, wird später wieder genommen. Es gibt tatsächlich eine Reihe betrügerischer Praktiken, die dazu führen, dass die Arbeitnehmer:innen in diesem Bereich langfristig verlieren werden, auch wenn die momentane Erleichterung zunächst spürbar ist. Es zeigt sich, dass die Gewerkschaften dem zustimmen, daher glaube ich nicht, dass sie einen ernsthaften Kampf führen werden. Dies gilt nicht nur für Türk Metal oder Çelik-İş, sondern auch für Birleşik Metal, da es sich dabei um bürokratisierte Strukturen handelt.
„Arbeiteriinnen müssen sich selbst klassenbasiert organisieren“
In Anbetracht einer so weitreichenden Armut müssen sich die Arbeitnehmer:innen organisieren, jedoch gleichzeitig die bestehenden Organisationen in Frage stellen. Im Rahmen dieser Infragestellung müssen sie sich in der nächsten Phase von diesen Organisationen lösen und eine Einheit finden, auf deren Grundlage eine wahre Organisierung erfolgen kann. Dies wird zweifellos durch eine klassenbasierte Form des Kampfes erreicht. Ich denke, sie werden sich darum bemühen. Das Problem, dem wir uns heute stellen, ist nicht auf den Metallsektor, den Textilsektor oder auf Orte wie Antep, Kayseri oder Istanbul beschränkt. Wir stehen vor einer sozialen Krise, die alle Sektoren, alle Bereiche, die gesamte Türkei und alle Teile der Gesellschaft betrifft. Eine solche Krise kann nur durch eine allgemeine Mobilisierung bewältigt werden. Regionale Arbeiterkämpfe müssen zu umfassenden Mobilisierungen werden, um wirksam zu sein. Lasst uns auch die Arbeiter:innen im öffentlichen Dienst einbeziehen. Da im öffentlichen Sektor keine ernsthafte Mobilisierung gegen den aktuellen Tarifvertrag stattfindet, haben nur die Beschäftigten im Gesundheitswesen ihre Arbeit für einen Tag niedergelegt.“
„Solide ideologische Grundlage ist entscheidend“
Müftüoğlu betont, dass der bevorstehende Kampf eine solide ideologische Grundlage benötigt: „Wir haben gesehen, was bei den Wahlen geschehen ist und erkannt, dass sich die Nationale Allianz und die Republikanische Allianz nicht unterscheiden. Daher muss jeder Kampf, der jetzt geführt werden soll, auf einer soliden ideologischen Grundlage stehen. Mit anderen Worten, jeder Einzelne muss jetzt Partei ergreifen. Während eine Seite unglaublich reich wird und das Kapital enorme Gewinne erzielt, führt dies auf verschiedene Weise zu mehr Ungleichheit und Ungleichgewicht. Dies wird sich in absehbarer Zukunft fortsetzen. Das mittelfristige Programm der Regierung wird bald bekannt gegeben. Neue Steuern werden höchstwahrscheinlich eingeführt werden, und diese Steuern werden vom größten Teil der Bevölkerung getragen werden. Die Kosten werden weiter ansteigen. In dieser Hinsicht ist zu erwarten, dass der Kampf heute länger dauern wird als in der Vergangenheit.“[1]