Sèvres, 10. August 1920. Die osmanische Delegation wird nach Paris eingeladen, um den letzten der Pariser Vorortverträge, die dem ersten Weltkrieg völkerrechtlich ein Ende setzen, zu unterzeichnen – den Vertrag von Sèvres. Da das Osmanische Reich ebenfalls dem unterlegenen Militärbündnis der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn angehört, soll auch das Sultanat die Friedenskonditionen der Alliierten annehmen. Insbesondere soll das Einflussgebiet des bereits vor dem Krieg geschwächten Osmanischen Reiches auf Anatolien reduziert werden. Von den territorialen Zugeständnissen sollten auch die Kurd:innen profitieren.
Gemäß den Artikeln 62-64 des Vertrages wird der kurdischen Bevölkerung ein autonomes Gebiet versprochen, das die Fläche südlich von Armenien, östlich des Euphrats und nördlich der türkischen Grenze zu Syrien und Mesopotamien umfasst. Es wird zur Bedingung gemacht, dass die kurdische Bevölkerung nach Inkrafttreten des Vertrages dem Völkerbund ihren Unabhängigkeitswunsch nachweist.
Die kurdische Selbstbestimmung scheint nun in Reichweite zu sein. Doch stellt sich Sèvres bald als ein leeres Versprechen heraus. Erstens werden die Grenzen des Autonomiegebietes nicht genau genug definiert; einige Abschnitte fehlen ganz. Da kein kurdischer Delegierter mit am Verhandlungstisch saß, entspricht das autonome Kurdistan gemäß Art. 62 nur einem Drittel der tatsächlichen kurdischen Gebiete im osmanischen Reich. Die kurdischen Anforderungen überschneiden sich außerdem mit den armenischen, sodass Sèvres selbst innerhalb der kurdischen Elite für Aufregung und Kritik sorgt. Zweitens herrscht 1920 das osmanische Sultanat nur de jure. De facto bildet sich im selben Jahr in Ankara unter der Führung von Mustafa Kemal eine Gegenregierung – die Große Nationalversammlung –, die die Gründung eines türkischen Nationalstaates anstrebt. Diese setzt sich mittels Massaker und Kriege gegen die Bestimmungen von Sèvres durch. Jeder Widerstand wird blutig niedergeschlagen: zwischen 1920 und 1923 sterben Armenier:innen, Griech:innen und Pontusgriech:innen. Die Bevölkerung des kurdischen Koçgirî-Stammes wird 1921 ausgelöscht.
Die Vertragsparteien verzichten auf eine militärische Intervention gegen Mustafa Kemal, während das Selbstbestimmungsprinzip mit den Füßen getreten wird. Sèvres wird ein paar Jahre später als nichtig betrachtet und somit erlischt auch die Hoffnung auf politische Autonomie für die Kurd:innen und andere Minderheiten in Anatolien.
102 Jahren nach Sèvres sind die Folgen seines Scheiterns noch zu spüren. Es wird Zeit, dass Europa aus der Geschichte lernt – solange Minderheitenrechte und -Ansprüche missachtet bleiben, kann es im Nahen Osten keinen Frieden geben.[1]
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