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„Ich habe ein reines Gewissen und werde meinen Kopf nicht senken“
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Mirza B.

Mirza B.
Vor dem Oberlandesgericht München gab der seit Mai 2021 inhaftierte kurdische Aktivist Mirza B. seine persönliche Erklärung ab. Zahlreiche Zuschauer:innen folgten seiner Einlassung, vor dem Gerichtsgebäude fand parallel eine Solidaritätskundgebung statt.
Seit Mitte Mai läuft am Oberlandesgericht München das Verfahren gegen den kurdischen Aktivisten Mirza B. mit den vorhersehbaren Ritualen deutscher PKK-Prozesse: Anträge der Verteidigung, Zeugenvernehmungen und Verlesen diverser Dokumente, die als „Beweise“ herhalten müssen, um ein Verfahren nach dem „Terror“-Paragraphen 129b zu rechtfertigen.
Mirza B. ertrug all dies mit stoischer Gelassenheit. Nun soll er zu Wort kommen. Seine persönliche Erklärung bei der Gerichtsverhandlung am Dienstag dauerte knapp vier Stunden. Im gut gefüllten Zuschauerraum folgten kurdische und deutsche Freund:innen konzentriert seinen Ausführungen. Parallel zum Geschehen im Gerichtssaal fand vor dem Gerichtsgebäude eine Solidaritätskundgebung der Föderation Fed-Gel statt.

Im Folgenden wird Mirzas Einlassung zusammengefasst, ergänzt durch mitgeschriebene Zitate:

In kurdischer Sprache gedachte Mirza B. zunächst der Gefallenen. Auf Türkisch fuhr er dann fort und wies auf seine kurdische Identität hin, die es ihm nicht erlaube, sich der Geschichte seiner Gesellschaft zu entziehen. Die Entscheidung des kurdischen Volkes gegen ein Leben unter Besatzung und Kolonialismus habe auch ihn veranlasst, Verantwortung zu übernehmen und dafür einen Preis zu bezahlen. Er ging dann auf den Anteil der europäischen Staaten am Schicksal seines Volkes ein: „Während diese Staaten Lektionen in Demokratie erteilen wollen, stellen sie sich blind, taub und stumm, wenn es um Kurd:innen geht, und sprechen von ‚Terrorismus‘, wenn sie den Freiheitskampf eines Volkes meinen.“

Daraufhin fragte Mirza B. das Gericht:

Sind Sie bereit meine Geschichte zu hören, die voller Albträume war?

Geboren 1986 in der Nähe von Hezex (tr. Idil) in der nordkurdischen Provinz Şirnex (Şırnak) habe seine Kindheit eigentlich sehr schön angefangen. „Unser Dorf war klein, für mich aber eine große Welt voller Herzlichkeit und Freundschaften.“ Die Realität des Lebens in Kurdistan habe ihn jedoch schnell eingeholt: „Eines Tages wurde unser Dorf von vielen uniformierten Männern überfallen. Sie prügelten die Leute aus ihren Häusern. Ich hörte die Klagelaute der Frauen, das Geschrei der Kinder. Wer waren diese Männer und wieso verhielten sie sich so? Ich verstand: Das waren böse Menschen. Sie nahmen meinen Vater und andere Männer mit und haben sie tagelang gefoltert. Später erfuhr ich, dass sie Soldaten des Staates waren. Nun ergriff mich jedes Mal ein Schauer, wenn ich das Wort ‚Soldat‘ hörte.
Ich sah, dass auch andere fremde bewaffnete Männer und Frauen in unser Dorf kamen. Sie interessierten sich für die Probleme der Leute. Auf ihren Gesichtern war Hoffnung und Freude, und die Erwachsenen begegneten ihnen mit Liebe und Respekt. Ich war überzeugt, das sind gute Menschen, vor denen ich mich nicht verstecken musste. Es wunderte mich sehr, dass sie so plötzlich verschwanden, wie sie auftauchten. Ich stellte sie mir als Menschen mit übernatürlichen Kräften vor. Später habe ich erfahren, dass sie zur Guerilla gehörten und für die Freiheit der Kurd:innen kämpften. Also waren wir gegenüber den Soldaten, die unsere Leute verprügelten, nicht alleine, und allmählich lösten sich meine Ängste.“
Ausführlich schilderte Mirza B. dann den Terror des Staates in den 1990er Jahren in Kurdistan, der seine Kindheit prägte: das System der Dorfschützer, extralegale Morde, das Niederbrennen der Dörfer. Er ging auf die Hizbul-Kontra ein, gegründet von der paramilitärischen JITEM, und beschrieb sie als „Gruppe langbärtiger, brutaler, religiös-fundamentalistischer Männer“. Sie hätten ihm Angst eingejagt wegen der Geschichten über Schweinefesseln und Säurebrunnen, die die Runde machten.
Mit der Einschulung erlebte Mirza B. die Assimilationspolitik, die kurdische Kinder „türkisieren“ wollte. „Wir versammelten uns jeden Morgen vor der Schule und riefen „Ich bin Türke, ehrlich und fleißig…“ Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Ich verstand nur den Ausdruck „ich bin Türke“. Ich war aber kein Türke.“

Flucht vor staatlicher Repression

Nach einem versuchten Überfall der Paramilitärs auf seinen Bruder siedelte die Familie nach Çukurova um. „Es erwartete uns ein Leben, das uns fremd war. Wir waren erst ein Jahr dort, da erschütterte uns die Nachricht, dass mein Bruder nach einer Newroz-Feier am 24. März 1994 vom Staat ermordet wurde.“
Wieder floh die Familie. „Meiner Familie ging es wirtschaftlich nicht gut und nach diesen Ereignissen wurde es noch viel schlimmer. Wir waren nun dazu gezwungen, in allen möglichen Jobs zu arbeiten. Der Staat wollte die Kurden, die er zur Migration zwang, durch Armut in den türkischen Städten zähmen. Sein Ziel war es, sie ihren Wurzeln und ihrem Kampf zu entreißen. In dieser neuen Stadt fraßen wir unsere Schmerzen und unseren Hass in uns hinein. In unserem Gedächtnis und in unseren Herzen aber lebten sie weiter.“
All diese Erfahrungen brachten Mirza B. dazu, sich als kleiner Junge ein Versprechen zu geben: „Ich würde studieren, ein ‚großer Mann‘ werden und mich an denen rächen, die meinem Bruder und uns all das angetan hatten. Ich hatte nicht die Kraft, diesem brutalen, erbarmungslosen Staat anders zu widerstehen.“

Ich heiße Mirza und komme aus Şırnak

Beschrieb Mirza B. bisher die emotionalen Reaktionen eines Kindes auf die staatliche Repression, entwickelte er mit dem Wechsel an die Universität allmählich ein Bewusstsein über seine kurdische Identität. Beispielhaft schilderte er die rassistische Beleidigung eines Dozenten, nachdem er sich mit „Ich heiße Mirza und komme aus Şırnak“ vorstellte, und wie er daraufhin dem Lehrer die Stirn bot.
An der Uni begann Mirza, sich mit der Sprache, Geschichte und Kultur des kurdischen Volkes zu beschäftigen. „Ich fühlte Wut, dass Türken, Araber und Perser sich nicht damit begnügen, sich zahlreiche literarische Werke von uns anzueignen, sondern auch noch auf uns als ‚kulturlos‘ oder ‚ungebildet‘ herabsehen… Manchmal war ich auch auf mich selbst wütend. Wie hatte ich leben können, ohne darüber Bescheid zu wissen? Es war ja völlig klar, was meiner Heimat und Familie widerfahren war. Ich sollte diese Wirklichkeit nun nicht mehr aus Geschichtsbüchern lernen. Ich wollte ins echte Leben zurückkehren und etwas tun.“

Es machte mich glücklich, als junger Kurde etwas tun zu können

Mirza B. schilderte sein Engagement in Stadtteilvereinen. Dort half man denen, die wie er die Heimat verlassen mussten, und gab den Kindern Nachhilfe. Neben dem Studium nahm er an Aktivitäten der Studierenden für die Rechte der Kurd:innen teil. Obwohl diese von der Uni-Leitung genehmigt waren, wertete der Staat sie als „separatistisch“ und „terroristisch“.
An dieser Stelle fragte Mirza das Gericht: „Ist es Separatismus, der Menschen zu gedenken, die in Halabdscha durch chemische Waffen ermordet wurden? Ist es Terrorismus, Gerechtigkeit für dreiunddreißig kurdische Jugendliche zu fordern, die in Roboski durch Fassbomben türkischer Kampfflugzeuge ermordet wurden? Ist es Terrorismus, halt zu sagen, wenn Wälder in meinem Land in Brand gesteckt und historische Orte wie Hasankeyf zerstört werden? Ist es Separatismus, für die Rechte von Frauen einzutreten, die tagtäglich sexuell belästigt, vergewaltigt und ermordet werden?“

Wer ist dieses Jahr wohl an der Reihe verhaftet zu werden?

Mehr und mehr gerieten die Studierenden in den Fokus des Staates. „Wegen der Demonstrationen und Veranstaltungen, an denen wir teilnahmen, wurden wir nun polizeilich registriert. Sie ließen uns nirgendwo in Ruhe. Festnahmen wurden Routine.“ Schließlich habe auch Mirzas Name auf einer Liste der Gesuchten gestanden. Er musste die Universität verlassen.

Mit Öcalan fügen sich die Teile des Puzzles zusammen

Für mehrere Monate versteckte er sich bei Verwandten in der Westtürkei. Dort las er das „Manifest der Demokratischen Zivilisation“, den fünften Band der Verteidigungsschriften von Abdullah Öcalan. Um vor dem Gericht darzulegen, warum die kurdische Befreiungsbewegung den Kampf aufnahm, zitierte Mirza B. eine längere Passage aus Öcalans Schriften. Über die Zeit dieser Lektüre sagte er: „Meine Sicht auf die Welt entwickelte sich weiter. Die Recherchen, die ich bis dahin gemacht hatte, waren im Vergleich viel zu oberflächlich gewesen. Alle Teile des Puzzles fingen an, sich zusammenzufügen.“
Während der Staat Mirza suchte, wurden sein Vater im Rahmen der KCK-Verfahren und seine Schwester wegen Aktivitäten an der Uni verhaftet. 2012 habe er dann sein Studium und seine politischen Aktivitäten wieder aufgenommen. „Es war die Zeit, als in den Gefängnissen zehntausende Gefangene ein Todesfasten für Gespräche mit dem kurdischen Volksführer und die Aufhebung der totalen Isolation durchführten.“

Hoffnung auf Frieden

Die Phase der Verhandlungen des türkischen Staates mit Öcalan beschrieb Mirza B. als geprägt von der Hoffnung auf Frieden, vor allem nach Öcalans Newroz-Rede 2013 und dem Rückzug der Guerilla: „Es wurde intensiv darüber diskutiert, ob die PKK von der Liste der Terrororganisationen gestrichen werden sollte. Auch die Unterstützung für die HDP wurde tagtäglich größer.“
Das Klima habe sich dann mit den Gezi-Park-Protesten geändert und „der Staat sah sich in die Enge getrieben. Die politische Atmosphäre zwischen dem Staat und der kurdischen Front war zwar entspannter geworden, aber der psychische Druck der Polizei gegenüber uns an den Universitäten war überall zu spüren. Ich konnte diesen Druck nicht mehr aushalten und im vierten Studienjahr sah ich mich dazu gezwungen, die Universität zu verlassen.“

2014: Legale politische Arbeit in der DBP und die Barbarei des IS

Mirza B. beteiligte sich dann an der Gründung der DBP (Partei der Demokratischen Regionen). „Die grundsätzliche Strategie unserer Partei war zu jener Zeit im Rahmen der Verhandlungen politische Aktivitäten zu entfalten.“ So habe er mit einer Delegation der DBP in Amed ein Camp von Ezid:innen besucht, die vor dem sogenannten Islamischen Staat (IS) fliehen mussten. Dort erfuhr er vom Verrat der PDK und der Intervention der Guerilla zur Rettung der ezidischen Bevölkerung.
Zum Überfall des IS auf Kobanê berichtete er: „Überall unterstützten die Kurd:innen aus allen vier Teilen Kurdistans den Widerstand gegen die IS-Barbarei. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Jugendliche, Alte und Frauen zur Grenze gingen, die mit Stacheldraht und Minen gesichert war. Für manche von ihnen war es ein Lauf in den Tod.“

So viel Blut, Tränen und Schmerzen

Ausführlich schilderte Mirza B. dann die Ereignisse seit 2014: das Scheitern der Friedensverhandlungen, der Wahlsieg der HDP, die Angst Erdogans vor dem Machtverlust, die immer offensichtlichere Unterstützung des IS durch den türkischen Staat. Sichtlich aufgewühlt beschrieb er den gnadenlosen Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung. Er sprach über die Ermordung von Tahir Elci, über Mutter Taybet und Ekin Van. „Dieses Land hat so viel Blut, Tränen und Schmerzen gesehen, dass wir nicht mehr wissen, um wen wir trauern sollen. Während ich diese Zeilen verfasse, sehe ich dies alles wieder vor meinen Augen. Mein ganzer Körper zittert vor Wut. Der faschistische türkische Staat, der uns all das erleben ließ, und alle, die ihn unterstützen, seien tausendmal verflucht!“

Doppelmoral der internationalen Gemeinschaft

Hier unterbrach Mirza B. seine Geschichte für einen Exkurs in die Gegenwart, indem er die türkischen Angriffskriege mit dem von Putin auf die Ukraine verglich. Er gedachte der ukrainischen Opfer und fügte an: „Wir verstehen sehr gut, was das ukrainische Volk fühlt.“ Doch deutlich sprach er die Unterschiede in den Reaktionen der internationalen Gemeinschaft an: „Mehmet Tuncs Rede an den Europarat aus den Todeskellern in Cizre und der Hilferuf der Ukrainer aus den Bunkern gleichen sich.“ Während die Ukraine große Solidarität erfuhr und jede Art von Unterstürzung erhielt, sei der kurdische Ruf nach Hilfe verhallt. Mirza B. benannte auch die Gründe dieser Doppelmoral und fragte: „Gibt es ein internationales Gericht, das für Gerechtigkeit sorgt?“

Der Weg nach Europa

Das Entsetzen über die Ereignisse in Cizîr (tr. Cizre) erschütterten Mirza B. nachhaltig. Da er sich einige Zeit dort aufgehalten hatte, kannte er viele der Opfer. Er beschloss, nach Europa zu gehen: „Ich war auch einer von denen, die sich in Folge dieser Brutalität auf den Weg nach Europa machten. Es war Anfang 2016. Ich habe zwei Anträge auf ein Visum gestellt. Beide wurden abgelehnt. Dann habe ich mich wie Millionen Flüchtlinge auf den Weg gemacht. … Den Schmerz über die gefallenen Kinder meines Landes in meinem Herzen stieg ich ins Boot und erinnerte mich daran, dass tausende Flüchtlinge in jenen Gewässern ertrunken waren. Unsere Reise dauerte fünf Tage, und wir standen ein paar Mal kurz davor unterzugehen.“
Nach Ankunft in Europa habe er „mit seltsamen Gefühlen“ einen Asylantrag gestellt: „Ich bin ein Kurde, aber türkischer Staatsbürger und nun sollte ich in einem anderen Land Flüchtling sein?“ Es sei ihm unmöglich gewesen, sich „vom falschen Freiheitswind Europas mitreißen zu lassen“. Am hiesigen komfortablen Leben teilzunehmen käme für ihn nicht in Frage.

„Ich habe ein reines Gewissen und werde meinen Kopf nicht senken.“

Seine persönliche Erklärung beendete Mirza B. mit den Worten: „Ich konnte nicht wie ein Bettler auf das Mitgefühl der europäischen Staaten warten, die zu den Massakern in Kurdistan schweigen. Ich werde auch hier meinen Platz im Kampf für das Recht des kurdischen Volkes auf Freiheit, Demokratie und Gleichheit einnehmen. Wenn ich heute hier im Gefängnis bin, weil ich diese Grundrechte eingefordert habe, bedeutet das für mich Ehre und macht mich glücklich. Ich habe ein reines Gewissen und werde meinen Kopf nicht senken.“
Die Zuhörer:innen quittierten diese Worte mit Applaus. Im Anschluss kündigte der Vorsitzende Richter an, er habe noch Fragen zur persönlichen Situation des Angeklagten. Mirzas Anwalt Yunus Ziyal schlug vor, diese schriftlich einzureichen. Er werde dann mit seinem Mandanten über eine Beantwortung entscheiden. Beim nächsten Prozesstermin am 6. September soll mit der Verlesung der Telekommunikationsüberwachung begonnen werden, bei der Mirza B. keine Prozessbeobachtung wünscht.

Weiterer Prozessverlauf

Die nächsten Gerichtstermine: 06.09.2022, 15.09.2022, 21.09.2022, 23.09.2022, 28.09.2022, 05.10.2022 jeweils um 9:30 Uhr, Nymphenburger Straße 16, 80335 München, Saal B-277. Weiterhin wird – außer während der Verlesung der TKÜ – um eine solidarische Prozessbegleitung gebeten.

Postadresse:

Mirza Bilen
c/o JVA Stadelheim München
Stadelheimer Str. 12
81549 München.[1]

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