#Nilüfer Koç#, Sprecherin für internationale Beziehungen des Nationalkongresses #Kurdistan# (KNK)
Kurdistan ist nach wie vor eine internationale KolonieSeit Beginn des Jahres 2020 machen sich kurdische Menschen Sorgen wegen eines drohenden innerkurdischen Konfliktes. Anlass war die Stationierung von Streitkräften der Demokratischen Partei Kurdistans1 im Frühjahr in der Region Zînê Wertê in den Qendîl-Bergen; sie setzte sich mit der weiteren Entsendung von militärischen Kräften der PDK in andere Regionen Südkurdistans fort, in denen seit 1981 Kräfte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Stützpunkte unterhalten.
Diese Aktivitäten der PDK fingen an, nachdem das türkische Militär eine neue, groß angelegte Militäroperation gegen Südkurdistan begonnen hatte. Die jüngsten türkischen Militäroffensiven wurden unter dem Namen »Operation Kralle 1, 2 und 3« eingeleitet und stellen den Versuch dar, die türkische Besatzung Südkurdistans in fünf Etappen auszuweiten. Zunächst wurden die Regionen Şexan, Etrûş, Bergare und Akrê ins Visier genommen, es folgten Zînê Wertê und Sîdekan, dann Barmernê, Amediyê und Barzan, dann Behdînan-Qendîl und schließlich im fünften Schritt die Region Gare. Anfang November verlegte die PDK Peschmergakämpfer und Spezialeinheiten der »Leşkerê Gulan2« in die Region Gare, was in ganz Kurdistan die Alarmglocken läuten ließ.
Die nächsten Entwicklungen in Gare werden darüber entscheiden, ob es einen innerkurdischen Militärkonflikt geben wird. Die engen bilateralen Beziehungen der PDK zur türkischen Regierung haben Misstrauen und Konflikte zwischen der PDK und der irakischen Zentralregierung hervorgerufen.
In der Autonomen Region Kurdistan hat die PDK Sorge getragen, die Koalitionspartner der kurdischen Regionalregierung, die Patriotische Union Kurdistans3 und Gorran, von Entscheidungsfindungen auszuschließen. Jüngst behauptete sie, die anderen Parteien über Verlautbarungen und Maßnahmen informiert zu haben, was von der YNK und Gorran jedoch öffentlich dementiert wurde.
In den vergangenen zwei Jahren hat die US-Regierung unter Trump als wichtiger Verbündeter des autoritären türkischen Präsidenten Erdoğan und dessen Regierung, einer Koalition der islamistischen AKP4 mit der MHP5, gehandelt. Die US-Unterstützung für diese Regierung war lebenswichtig, denn Erdoğan und das AKP-MHP-Regime sind zunehmend diplomatisch isoliert und in Zeiten einer schweren Wirtschaftskrise international mit Unzufriedenheit und wachsendem Misstrauen konfrontiert. Militärischer Expansionismus und Besatzung sind die Eckpfeiler von Erdoğans Außenpolitik; innenpolitisch dienen sie dazu, die Unterstützung für seine Regierung aufrechtzuerhalten.
Die Trump-Regierung hat Erdoğans Hunger direkt gestillt, indem sie die nordsyrischen Städte Serêkaniyê und Girê Spî ausgeliefert hat. Die AKP-MHP-Koalition und die PDK, die allesamt eigenen ernsthaften Problemen gegenüber stehen, versuchen ihre Kräfte zu bündeln, um die PKK zu schwächen. Damit soll die stärkste kurdische politische Kraft von der regionalen und globalen politischen Bühne verdrängt, die kurdische Gesellschaft gespalten und die Stellung der Türkei in der NATO gestärkt werden.
Erdoğans Türkei stellt nicht nur für die kurdische Gesellschaft eine Bedrohung dar, sondern auch für viele Mitgliedstaaten der NATO (wie z. B. Frankreich, die Niederlande und Österreich) und die Mitglieder der Arabischen Liga. Der gesamte Mittlere Osten ist durch den aggressiven und destabilisierenden militärischen Expansionismus gefährdet. Wenn die Pläne des AKP-MHP-Regimes umgesetzt werden, werden vor allem die Kurd*innen deren Opfer sein. Erdoğans Türkei wird gestärkt werden und der Mittlere Osten, Nordafrika, der Kaukasus, Europa etc. weiter destabilisiert. Die militärische Aggression der Türkei und die Krise in der südkurdischen Region Gare betreffen also nicht nur die Kurd*innen.
In den letzten 20 Jahren haben das nationale Bewusstsein der kurdischen Gesellschaft sowie die Flexibilität und das Engagement der PKK für Dialog, Kompromissfindung und nationale Einheit größere innerkurdische Konflikte verhindert. Die gegenwärtige Situation jedoch ist für die Kurd*innen gefährlich. Nach seiner Wahlniederlage wird der für die Türkei verlässliche internationale Verbündete US-Präsident Trump, die Macht abgeben. Dadurch wird Erdoğan mit verschiedenen Krisen konfrontiert sein, die den Fortbestand seiner autokratischen Herrschaft gefährden werden. Er und sein Partner, die MHP, haben großes Interesse daran, ein Blutvergießen unter den Kurd*innen zu befeuern und werden dies wahrscheinlich als einen Ausweg sehen, ihre Macht sichern zu können.
Es ist sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass im Zeitalter der multilateralen Politik lokale Konflikte immer auch regionale und globale Aspekte enthalten. Speziell in Bezug auf Kurdistan ist alles lokale ebenso regional wie auch global, denn Kurdistan ist nach wie vor eine internationale Kolonie. In Kurdistan liegen die strategischen Grenzen der Hauptakteure des Mittleren Ostens – die Türkei, Iran, Irak und Syrien. Jeder dieser Staaten ist Mitglied oder enger Verbündeter wichtiger Mitglieder in internationalen Organisationen. So ist beispielsweise die Türkei Mitglied der NATO und des Europarates. Irak und Syrien sind Mitglieder der Arabischen Liga. Der Iran hat seine eigenen weltweiten Bündnisse und ist eine eigenständige Regionalmacht mit militärischer bzw. paramilitärischer Präsenz in verschiedenen Ländern der Region. Darüber hinaus ist jede Entwicklung in Kurdistan unwiderruflich mit den Interessen der Weltmächte (einschließlich den USA, Russland und der Europäischen Union) im Mittleren Osten verbunden. Im Zusammenspiel regionaler und globaler Mächte basieren die politischen Beziehungen sowohl auf Kooperation als auch auf Konfrontation. Innerkurdische Angelegenheiten sind eng mit regionalen und globalen Interessen und Entwicklungen verknüpft.
Ein konkretes Beispiel kann diese unbestreitbare Realität verdeutlichen: Das türkische Militär will seine Besatzung in Südkurdistan und im Irak ausweiten und hat #Şengal#, das Siedlungsgebiet der #Êzîd#*innen, ins Visier genommen, die erst vor wenigen Jahren Opfer eines Völkermordes durch den Islamischen Staat (IS) wurden. Unter der Vermittlung der US-Regierung unterzeichneten die irakische Zentralregierung und die südkurdische Regionalregierung am 9. Oktober 2020 ein Abkommen über die Kontrolle Şengals, dessen Zustandekommen ausdrücklich unter Ausschluss der politischen Vertretung der Êzîd*innen stattfand. Die Vereinten Nationen fungierten als offizieller Vermittler, und die Türkei wurde über die Angelegenheit informiert. Das Abkommen war die Folge einer erschreckenden Empfehlung des leitenden stellvertretenden Sekretärs des Büros für Nahost-Angelegenheiten des US-Außenministeriums, Joey Hood, im August 2020: Er erklärte, dass »die Regionalregierung Kurdistans, die Zentralregierung in Bagdad und die Türkei, die mit Unterstützung und Beratung durch die Vereinigten Staaten und andere Koalitionsländer zusammenarbeiten«, in Şengal kooperieren sollten, um eine Zivilverwaltung einzurichten und »Milizen, einschließlich der PKK« aus der Region zu vertreiben.
Es gibt keine rechtliche oder moralische Rechtfertigung dafür, der Türkei zu gestatten, eine Rolle in der Zukunft von Regionen zu spielen, die zum Territorium des souveränen Staates Irak gehören. Während im Jahr 2014 Erdoğan die Präsenz des IS an seinen Grenzen duldete und tausende Menschen durch die Türkei reisten, um sich dem IS anzuschließen, lieferten Streitkräfte der irakischen Zentralregierung und der PDK Şengal und seine ezidische Bevölkerung dem IS zur Massakrierung aus. Es waren die Volksverteidigungskräfte HPG und die Verteidigungseinheiten der YPG und YPJ, die zum Schutz der êzîdischen Bevölkerung herbeieilten und die Flucht von Zehntausenden Menschen vor dem IS ermöglichte.
Fußnoten:
1 - Partiya Demokrata Kurdistanê, PDK, auch KDP abgekürzt
2 - Privatarmee von Mesrûr Barzanî, Ministerpräsident der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak
3 - Yekîtiya Nîşimanî ya Kurdistanê, YNK, auch PUK abgekürzt
4 - Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, deren Vorsitzender Erdoğan ist)
5 - Milliyetçi Hareket Partisi (Partei der Nationalistischen Bewegung).[1]