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Jineoloj

Jineoloj
Die Internationalistin Andrea Benario über bleibende Strukturen für die Frauenrevolution.
In den letzten Jahren sind der Begriff und das Konzept der Jineolojî – einer alternativen Wissenschaft der Frau – an vielen Orten und auf verschiedenen Foren vorgestellt und diskutiert worden. In vielen Ländern teilen Frauen das Bedürfnis, von einem Frauenstandpunkt aus eine alternative Wissenschaft zu entwickeln. Denn die patriarchale Wissenschaftslogik, die Wissen als Macht definiert und Wissenschaft als eine Domäne, die darauf ausgerichtet ist, die Natur, Menschen und die Gesellschaft zu beherrschen, zu kontrollieren und für den Profit einer Minderheit auszubeuten, konfrontieren das ökologische Gleichgewicht, die Menschheit und die Menschlichkeit im 21. Jahrhundert mit der Existenzfrage. Als einen Ausweg aus dieser Systemkrise verfolgt Jineolojî den Ansatz, Wissen und Perspektiven für gesellschaftliche Veränderung und Frauenbefreiung weltweit neu bewusst zu machen und zu entdecken, neu zu denken, zu diskutieren und zu vernetzen. Anstelle einer vermeintlichen »wissenschaftlichen Objektivität«, hinter der die Herrschenden ihre Profit-Interessen verstecken, erklärt die Jineolojî offen ihr Ziel, in Form und Inhalt eine Wissenschaft zu begründen, die die Freiheitskämpfe von Frauen stärkt und für den Aufbau einer demokratischen, ökologischen Gesellschaft auf der Grundlage der Frauenbefreiung nützlich und notwendig ist.

Mit der Revolution in Rojava hat die Jineolojî eine neue praktische Dimension erhalten. Zunächst wurde Jineolojî in die Bildungsprogramme der alternativen Akademien aufgenommen. Auf diese Weise erhielten neben den Aktivistinnen der Frauenbewegung auch MitarbeiterInnen der Demokratischen Autonomiestrukturen, KommunemitarbeiterInnen, LehrerInnen, ArbeiterInnen in den Bereichen von Gesundheit und Gerechtigkeit bis hin zu Mitgliedern der Selbstverteidigungskräfte HPC-HPJ, Asayîş und YPG-YPJ einen Einblick in die Inhalte und das Konzept der Jineolojî. An den Gymnasien in #Efrîn# und Kobanê sowie an den weiterführenden Schulen wurde angefangen, das Fach Jineolojî im Rahmen des allgemeinen Lehrplans zu unterrichten. Zugleich wurden zum Wissensaustausch unter Frauen lokale thematische Arbeits- und Diskussionsgruppen aufgebaut. Um die aktuellen Probleme und Bedürfnisse von Frauen genauer unter die Lupe zu nehmen, wurde mit einer soziologischen Studie der Frauen und der Gesellschaft in Rojava begonnen. Insbesondere geht es hierbei um die Fragestellungen: Welche Auswirkungen hat die Revolution auf das alltägliche Leben der Frauen? Zu welchem Ausmaß konnten die Erfolge, die bei der physischen Verteidigung errungen wurden, bislang in eine kulturelle und gesellschaftliche Revolution verwandelt werden? Wie wirken sich die neuen, basisdemokratischen Selbstverwaltungsstrukturen und das neue Bildungssystem auf das Leben in den Familien und Kommunen aus? Reichen Frauenkommunen, -kooperativen, -akademien und -selbstverteidigungskräfte, Gesetze und Gerechtigkeitsinstanzen für die Einhaltung der Frauenrechte aus, um Sexismus und Patriarchat zu überwinden? Was sind die ökonomischen Bedürfnisse und gesundheitlichen Probleme von Frauen? Wie können wir die individuelle und kollektive Kraft der Frauen stärken, um die Frauenrevolution in allen Bereichen des Lebens und der Gesellschaft zu verwirklichen und zu verteidigen?

Durch die Bildungsarbeit und Diskussionen in den Kommunen und Akademien wurde eine Grundlage dafür geschaffen, Jineolojî als eine Wissenschaft zu etablieren, die durch die Praxis der Revolution in Rojava genährt und zugleich von der Revolution vor neue Aufgaben gestellt wird. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, ist es notwendig, Frauen aus verschiedenen Generationen, aus den unterschiedlichen Kulturen und Kreisen der Gesellschaft in die Arbeiten von Jineolojî mit einzubeziehen. Die vielfältigen Erkenntnisse, Gedanken und Ideen aller Frauen können so zur Inspirationsquelle bei der Suche nach Lösungen zur Überwindung von Sexismus, Armut und Ungerechtigkeit werden. Es ist offensichtlich, dass sich eine gesellschaftliche Transformation, bei der jegliche Form von Herrschaft und Fremdbestimmung überwunden werden soll, nicht innerhalb kurzer Zeit mit einigen kleinen Projekten erreichen lässt. Dies erfordert vielmehr eine ernsthafte, entschlossene Praxis und bleibende Strukturen, die den Bedürfnissen angepasst werden können. In diesem Sinne spinnt sich die Jineolojî-Akademie in Rojava Schritt für Schritt ihr Netzwerk aus lokalen Arbeitsgruppen, Forschungszentren und der Jineolojî-Fakultät an der Rojava-Universität. Symbolisiert wird dieser Vorgang auch durch das Logo der Jineolojî-Akademie: eine Ahnenmutter mit einer Spindel in der Hand – mit Hand- und Kopfarbeit vorhandene Naturstoffe zusammenbringen und mit Geschick zu einem Faden spinnen, aus dem neue Stoffe gewebt werden können oder aber an den andere anknüpfen können, so dass neue Netzwerke und Entwicklungsstränge entstehen, die sich verfestigen, verlängern und ausbreiten.
Der Grundstein zur nachhaltigen Organisierung der Jineolojî-Arbeiten in Rojava war im Sommer 2016 mit Workshops zu einem neuen Gesellschaftsvertrag von Frauen und mit zwei einmonatigen Jineolojî-Bildungsprogrammen in Dêrîk gelegt worden. Hierüber wurden die Voraussetzungen zur Gründung von regionalen Jineolojî-Komitees in allen drei Kantonen geschaffen. Seit dem Frühling 2017 schreitet der Aufbau von Jinwar – dem ersten ökologischen Frauendorf in Rojava – stetig voran, um Frauen neue Anstöße für kollektive Lebensformen zu geben und auch in diesem Bereich die Theorie von Jineolojî mit dem Leben in Einklang zu bringen. Im Spätsommer 2017 wurden nun in Efrîn und Dêrîk Jineolojî-Forschungszentren sowie die Jineolojî-Fakultät an der Rojava-Universität in Qamişlo eröffnet. Was bedeuten diese neuen Schritte?

Jineolojî-Forschungszentrum für den Kanton Efrîn
Gegenwärtig ist die Sicherheitslage in Efrîn angespannt. Kein Tag vergeht, ohne dass die Dörfer des Kantons oder aber auch die Stadt Efrîn selbst durch die türkische Armee beschossen oder bombardiert werden. Doch trotzdem geht der gesellschaftliche Aufbauprozess weiter. Ein Beispiel dafür ist die Eröffnung des ersten Jineolojî-Forschungszentrums im Kanton Efrîn, die am 16. August 2017 mit reger Beteiligung der Bevölkerung gefeiert wurde.

Die Frauen, die am Aufbau des Zentrums mitgewirkt haben und nun die täglichen Arbeiten koordinieren, haben größtenteils an der Universität von Efrîn oder an den weiterführenden Berufsschulen studiert. Unter ihnen befinden sich Studentinnen der Fakultäten für kurdische Literatur und Sprache, gestaltende Kunst, Wirtschaft und Geschichte. Zudem haben alle zuvor an mehrtägigen Jineolojî-Bildungsprogrammen teilgenommen.
Dicle Heyder, Şêvîn Cemo, Fîdan Reşîd und Raperîn Elî berichten davon, dass sie das gemeinsame Ziel haben, die Anstrengungen und Mühen von Frauen für den Aufbau einer freien und gerechten Gesellschaft zu bewahren und sichtbar zu machen: »Das Hauptziel unseres Zentrums ist, daran mitzuwirken, dass die Revolution in Rojava, die wir als ›zweite Revolution der Frau‹ [nach der Neolithischen Revolution 9000–7000 v. u. Z.] bezeichnen, im Sinne der Frauenbefreiung und ihrer Werte voranschreitet. Wir wollen mit unseren Arbeiten das Wissen der Frauen in alle Bereiche der Revolution einfließen lassen und damit den Lauf der Geschichte ändern, die seit 5.000 Jahren durch die Versklavung von Frauen und der Gesellschaft geprägt wurde. Mit der Eröffnung unseres Zentrums wollen wir die Kraft und den Willen von Frauen in allen Lebensbereichen organisieren und die lähmende Unterdrückung überwinden, die die Frauen und das Leben hat erstarren lassen.
Die Krise der Sozialwissenschaften trägt heute zur Zerstückelung der Wahrheit und der Wirklichkeit bei und verursacht größere Krisen. Demgegenüber ist es ein Anliegen der Jineolojî mit ihren Forschungsarbeiten die Wirklichkeit der Gesellschaft und ihre Bedürfnisse zu erfassen.«
Über die Bedeutung der jineologischen Forschungsarbeiten bezüglich der Geschichte und der Situation von Frau und Gesellschaft in Efrîn sagen sie: »Wichtig ist, alle Bereiche der Wissenschaft miteinander in Bezug zu setzen und zu verbinden, die Probleme der Frauen und des Lebens im Detail zu sehen und die Suche nach Lösungen zu intensivieren. In der Geschichtsschreibung ist die Wirklichkeit der Frau verdreht worden. Aber mit dem Beginn der Revolution von Rojava konnten wir offenlegen, dass insbesondere Efrîn ein zentraler Ort der Kultur und der Geschichte der Muttergöttin ist.«

Insbesondere im Rahmen der Arbeiten zur soziologischen Untersuchung der Geschichte und Gesellschaft in Efrîn konnten die Mitarbeiterinnen des Jineolojî-Forschungszentrums archäologische Funde wie Frauenskulpturen, Göttinnen-Tempel und Höhlen dokumentieren, die die zentrale Rolle der Frau bei der Gesellschaftsentwicklung bezeugen. Auch bei Interviews mit Zeitzeuginnen der jüngeren Geschichte und der Revolution in Efrîn begegneten die Jineolojî-Mitarbeiterinnen vielen starken Frauencharakteren.
Im Zuge der Eröffnung des ersten Jineolojî-Forschungszentrums im Kanton Efrîn wurde ein Schwerpunkt auf die Netzwerkarbeit mit verschiedenen Einrichtungen der Selbstverwaltung und des Frauenkongresses Kongra Star gelegt, um möglichst viele Frauen zu informieren und einzubeziehen. Aus diesem Grund wurden in den Bereichen von Politik, Gerechtigkeit, Kunst und Kultur, Forschung, Medien und Bildung und im Verband Ezidischer Frauen Jineolojî-Arbeitsgruppen ins Leben gerufen. Neben Bildungs-, Informations- und Medienarbeit, wie dem Verfassen von Artikeln in kurdischer und arabischer Sprache für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, laufen derzeit Vorbereitungen zum Aufbau einer Hochschule für Jineolojî in Efrîn. Des Weiteren sind ein wöchentliches Jineolojî-Radioprogramm beim Sender Dengê Avrînê und der Aufbau von thematischen Arbeitsgruppen unter dem Dach des Forschungszentrums geplant.

Jineolojî-Forschungszentrum für den Kanton #Cizîr#ê
Nach der Eröffnung des Jineolojî-Forschungszentrums in Efrîn wurde das Jineolojî-Forschungszentrum für den Kanton Cizîrê am 13. September 2017 in Dêrîk eröffnet. Viele Frauen aus den verschiedenen Arbeitsbereichen des Frauenkongresses Kongra Star, Vertreterinnen der Demokratischen Föderation Nordsyrien sowie Menschen aus der Nachbarschaft, KurdInnen, AssyerInnen und AraberInnen nahmen an diesem Ereignis teil. Da der Kanton Cizîrê durch die Geschichte und das Zusammenleben der verschiedenen Völker und Glaubensgemeinschaften geprägt ist, hat sich das Jineolojî-Forschungszentrum in Cizîrê insbesondere zum Ziel gesetzt, die Geschichte und gegenwärtige Situation der Frauen in den verschiedenen Gemeinschaften zu untersuchen und einander näher zu bringen.Bêrîvan Tahir vom Vorstand des Jineolojî-Forschungszentrums im Kanton Cizîrê führt dazu aus: »Jineolojî ist als Begriff neu. Jedoch ist es eine Wissenschaft, die ihre Anfänge in der Zeit der vorstaatlichen natürlichen Gesellschaft hat. Es ist eine Wissenschaft, mit der Frauen die ersten Gesellschaften auf der Grundlage der Gleichheit von Frauen und Männern aufgebaut und verwaltet haben. Der Ausschluss von Frauen aus allen gesellschaftlichen Bereichen und der modernen Wissenschaft hat die Gesellschaften weltweit in tiefe Krisen gestürzt. Jineolojî beabsichtigt das Wissen, die Weisheit und den Kampf von Frauen von Neuem zu organisieren, um auf der Grundlage des historischen Erbes von Frauen eine freie, demokratische Gesellschaft aufzubauen. Mit der Eröffnung dieses Zentrums ist es unser Ziel, Jineolojî allen Frauen und der gesamten Gesellschaft bekannt zu machen und in allen Bereichen und Gemeinschaften zu verankern.«

Gegenwärtig organisieren sieben Frauen im Alter zwischen 20 und 27 Jahren, die größtenteils Studentinnen sind, die täglichen Arbeiten im Forschungszentrum: »Wir haben alle zuvor an Jineolojî-Bildungen teilgenommen und uns für diese Arbeit begeistert, da wir uns selbst darin wiedergefunden haben. Wir wollen Jineolojî in die Gesellschaft hineintragen, denn Jineolojî ist für uns etwas Lebensnotwendiges und eine Lebensaufgabe.
Derzeit arbeiten wir an einer soziologischen Untersuchung zur Geschichte und aktuellen Situation von Frau und Gesellschaft im Kanton Cizîrê, die einen Teil der soziologischen Forschung für ganz Rojava darstellt. Hierbei interessieren wir uns insbesondere für die Auswirkungen der Revolution auf das Leben und den Alltag von Frauen. Nicht nur in Dêrîk, sondern auch in Hesekê gibt es seit ca. einem Jahr lokale Jineolojî-Komitees, die daran mitwirken. Wir haben im Verlauf dieser Arbeiten Interviews mit Frauen aus allen Regionen des Kantons Cizîrê gemacht, die wir nun verschriftlichen.

Des Weiteren führen wir in unserem Zentrum Workshops durch, die von Frauen aus verschiedenen Arbeitsbereichen besucht und geleitet werden. Zum Beispiel haben wir einen periodischen Workshop zum Thema ›Frau und Gerechtigkeit‹ organisiert, bei dem Mitarbeiterinnen der Gerechtigkeitsinstanzen, der Frauenzentren Mala Jinê und der Kommunen zusammenkommen und der sehr erfolgreich verläuft. Durch die gemeinsamen Diskussionen können wir Lösungsansätze für die Probleme und Widersprüche in der alltäglichen Arbeit entwickeln. Zudem erstellen wir ein Archiv von Quellen zur Frauengeschichte und für Bildungsmaterialien.«
Aufgrund der positiven Erfahrungen mit dieser Arbeitsmethode haben die Mitarbeiterinnen des Jineolojî-Forschungszentrums im Kanton Cizîrê beschlossen, zukünftig einen Schwerpunkt auf den Ausbau der Workshops und der lokalen Diskussionsgruppen zu legen. Themen, die in diesem Rahmen behandelt und zur Diskussion gestellt werden sollen, sind u. a.: Frauenökonomie, Bildung und Selbstverteidigung. Des Weiteren planen sie, in den städtischen und ländlichen Kommunen des Kantons Seminare zu Jineolojî durchzuführen, um noch mehr Frauen in die Arbeiten mit einzubeziehen und neue Anregungen zu bekommen.

Fakultät für Jineolojî an der Universität Rojava
Anfang September 2017 begannen die Immatrikulationen für den ersten Studiengang an der Fakultät für Jineolojî, die bis zum 15. Oktober weitergehen werden. Dieser erste Studiengang, der 2 Jahre (6 Trimester) umfasst, ist ein Studiengang, der zugleich den Aufbau und die zukünftige Ausrichtung der Fakultät mitgestalten wird. So werden die »Studierenden« und »Dozentinnen« beispielsweise im Laufe des Studiengangs gemeinsam neue Bildungsmethoden erarbeiten und Materialien in verschiedenen Sprachen erstellen und ergänzen.
Über die Beweggründe für den Aufbau der Jineolojî-Fakultät an der Universität Rojava sagt die Mitbegründerin Zozan Sima: »Die Jineolojî-Fakultät wurde gegründet, um Frauen weiterzubilden, die mit einem Frauenstandpunkt als Politikerinnen, Ökonominnen, Lehrerinnen, Künstlerinnen oder mit soziologischen Untersuchungen, mit der Erweiterung und Verbreitung von alternativen, natürlichen Heilmethoden die Revolution in Rojava voranbringen wollen. Mit der Revolution in Rojava haben sich Frauen in vielen Bereichen Mitsprache-, Teilnahme- und Entscheidungsmöglichkeiten errungen. Die langjährigen Erfahrungen des Freiheitskampfes in Kurdistan haben den Willen, die Suche und die Fähigkeiten der Frauen in Rojava gestärkt. Hieran wollen wir anknüpfen und das vorhandene Potential weiter ausbauen, sodass Frauen eine führende Rolle dabei spielen können, diese Revolution eine Frauenrevolution des Mittleren Ostens werden zu lassen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wollen wir im Rahmen unserer Fakultät die notwendigen wissenschaftlichen und akademischen Arbeiten vorantreiben. Außerdem möchten wir mit der Fakultät einer neuen, jungen Generation die Standpunkte der Frauenbefreiung näherbringen.«
Auf die Frage, mit welchem Ziel die Universität Rojava errichtet wurde und was die Jineolojî-Fakultät von anderen Fakultäten an der Universität unterscheidet, antwortet Zozan Sima: »Die Rojava-Universität wurde vor einem Jahr [2016] eröffnet. Eigentlich beruht unser Bildungssystem der Jineolojî eher auf Akademien mit einem ganzheitlichen Ansatz, bei dem gemeinsames Leben und Lernen zusammengehören und es keine Zeugnisse gibt. Jedoch sind aufgrund des Krieges und der Umwälzungen im Bildungsbereich tausende von AbiturientInnen, die eine weitergehende Bildung wollten, entweder gezwungen gewesen die Universitäten des Regimes zu besuchen oder aber ins Ausland zu gehen. In der Gesellschaft wurden wir wiederholt mit der Forderung konfrontiert, in Rojava eine Universität zu eröffnen, damit die Jugendlichen auch hier eine weiterführende akademische Bildung bekommen können. Des Weiteren hatte die diskriminierende Bildungs- und Berufspolitik des Baath-Regimes gegenüber den KurdInnen zur Folge, dass kurdische UniversitätsabsolventInnen in Rojava keine Arbeits- bzw. Qualifikationsmöglichkeiten in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Ingenieurswesen oder Landwirtschaft hatten. Deswegen gibt es einen großen Fachkräftemangel. Aus diesem Grund wurden an der Universität Rojava zunächst Fakultäten für Ölingenieurswesen, Landwirtschaft, Bildung sowie Sprache und Literatur eröffnet. In diesem Jahr sind die Fakultäten für Gestaltende Kunst und Jineolojî hinzugekommen. Derzeit laufen Vorbereitungen für den Aufbau weiterer Fakultäten. Außerdem wird Jineolojî als ein Standardfach an allen Fakultäten sowie an vielen Akademien unterrichtet werden. In den Kantonen Efrîn und Kobanê ist Jineolojî seit zwei Jahren Bestandteil des Lehrplans der gymnasialen Oberstufe. Im kommenden Jahr wird Jineolojî auch in den Lehrplan des Kantons Cizîrê aufgenommen. Deshalb benötigen wir eine Vielzahl an Lehrerinnen und Lehrmaterialien für das Fach Jineolojî. Da Jineolojî auch einen interdisziplinären Ansatz beinhaltet, stehen wir mit allen anderen Fakultäten in Verbindung. An unserer Universität gibt es in allen Bereichen das Prinzip des Co-Vorsitzes. In diesem Sinne meinen wir, dass Jineolojî auch eine Rolle dabei spielen wird, den Willen und die Couleur von Frauen an der gesamten Universität zu stärken.«
Die meisten Frauen, die sich momentan an den Arbeiten der Fakultät beteiligen, bringen bereits Erfahrung im Bildungsbereich mit. Sie haben größtenteils zuvor an der Akademie Mesopotamien oder an den Kurdisch-Hochschulen Verantwortung übernommen sowie an Bildungsprogrammen und Arbeiten der Jineolojî mitgewirkt. Zozan Sima berichtet von den Herausforderungen, vor denen sie stehen: »Von den Medien, in der Gesellschaft und an der Universität selbst werden die Jineolojî-Arbeiten mit Interesse und Neugier verfolgt. Es gibt große Erwartungen bezüglich unserer Arbeiten. Der Frauenwiderstand in Kurdistan, der auch die Revolution in Rojava geprägt hat, war entscheidend dafür, dass Jineolojî mit einem so großen Interesse aufgenommen wird. Frauen wollen in allen Bereichen noch wirkungsvollere Arbeiten machen. Hierfür sehen sie Jineolojî und die Arbeiten der Fakultät als eine Basis. Mit dem genaueren Kennenlernen der Aufgaben- und Wirkungsbereiche von Jineolojî wird das Interesse noch weiter zunehmen. Momentan gibt es noch einige Studentinnen, die nicht richtig einschätzen können, welche Berufsaussichten sie mit einem abgeschlossenen Jineolojî-Studium haben können. Dabei ist Jineolojî eine wichtige Grundlage für alle Branchen und Lebensbereiche!«

Zu den Möglichkeiten, nach dem zweijährigen Studiengang Jineolojî das Gelernte in die Praxis umzusetzen, und den persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten für die Studentinnen befragt, antwortet Zozan Sima: »In den Strukturen des föderalen Systems und der demokratischen Autonomie von Rojava gibt es viele Aufgaben und Arbeitsmöglichkeiten. In allen Bereichen und Gremien der Demokratischen Föderation Nordsyrien ist das Prinzip des Co-Vorsitzes und der gleichen Partizipation von Frauen und Männern verankert worden. Hierbei ist es natürlich wichtig, dass Frauen nicht nur physisch vertreten sind, sondern auch Standpunkte der Frauenbefreiung überall einbringen und vertreten können.

Wir stehen alle unter dem intensiven Einfluss einer sexistischen Gesellschaft. Deshalb brauchen wir Institutionen, über die wir die Erfahrungen und Erkenntnisse im Kampf gegen den Sexismus und die Errungenschaften von Frauenkämpfen zusammenbringen und verfestigen können. Die Fakultät für Jineolojî kann hierfür eine wichtige Rolle spielen. Zudem gibt es in der Demokratischen Föderation Nordsyrien ein autonomes konföderales System der Frauenorganisierung und eine Vielzahl an Fraueneinrichtungen. Absolventinnen der Jineolojî-Fakultät werden mit ihren Kenntnissen die Einrichtungen der Frauenbewegung und der allgemeinen Gesellschaftsorganisierung bereichern und eine treibende Rolle beim gesellschaftlichen Neuaufbau spielen: Von der Ökonomie über das Gerechtigkeitssystem und die Politik bis hin zum Gesundheits- und Bildungsbereich werden Frauen mit einem jineologischen Standpunkt in allen Gebieten Arbeits- und Aktionsmöglichkeiten finden.
Da jedoch der Status von Rojava in der internationalen Politik immer noch ungeklärt ist und internationale Gremien wie die UN bislang die offizielle Anerkennung der selbstverwalteten Demokratischen Föderation Nordsyrien verweigern, befürchten einige StudentInnen Nachteile, was die internationale Gültigkeit ihrer Diplome betrifft. Deshalb wäre eine internationale Kampagne zur Anerkennung der Rojava-Universität wünschenswert.«

Um Theorie und Praxis schon während des Studiums zu verbinden und zu reflektieren, werden die Studierenden im letzten Trimester ein Praktikum in verschiedenen Einrichtungen machen, die zugleich Bereiche von Jineolojî darstellen und eine Abschlussarbeit in diesem Rahmen ausarbeiten. Dies kann beispielsweise im Bereich der Ökonomie ein Praktikum in einer Frauenkooperative sein. Im Gesundheitsbereich können Praktika z. B. im Komitee für Naturheilverfahren oder im Krankenhaus gemacht werden, im Bildungsbereich an Schulen oder an Akademien, im Bereich der Politik in den Kommunen oder Ausschüssen der Demokratischen Selbstverwaltung …
Bezüglich der Kriterien für die Aufnahme von Studentinnen sowie des angestrebten Verhältnisses zwischen Studierenden und Dozentinnen haben die Gründerinnen der Jineolojî-Fakultät sich auf folgende Herangehensweise geeinigt: »Da es sich um die Fakultät einer Universität handelt, sind natürlich gewisse Grundlagen und Vorwissen nötig. Jedoch bestehen wir nicht darauf, dass die Studentinnen unbedingt ein Abiturzeugnis haben müssen. Unsere Hauptkriterien sind, dass die Teilnehmerinnen der Fakultät einen Beitrag zu den Diskussionen rund um das Thema Frauenrevolution leisten können und sich aktiv in die Arbeiten einbringen wollen. Es haben sich sowohl Studentinnen immatrikuliert, die das Abitur gemacht haben, als auch welche, die aus den unterschiedlichsten Gründen die gymnasiale Bildung nicht abschließen konnten. Der Vorstand der Fakultät wird mit diesen Bewerberinnen Einzelgespräche führen, um festzustellen, ob sie für diesen Studiengang geeignet sind.

Wir beabsichtigen, die klassischen, hierarchischen Beziehungen zwischen Lehrerinnen-Schülerinnen/Dozentinnen-Studentinnen zu überwinden. Das ist natürlich nicht einfach. Jedoch suchen wir nach neuen Wegen und Methoden, die dies ermöglichen können. Eines unserer Hauptprobleme ist, dass die Methode des Auswendiglernens und Wiederholens, die durch das Bildungssystem unter dem Baath-Regime in Syrien angewandt wurde, noch bei vielen SchülerInnen sehr stark verankert ist. Vielen fällt es schwer, eigenständig etwas zu lesen und zu verstehen bzw. zu hinterfragen, selbst Gedanken zu entwickeln und zu interpretieren. Wir müssen das Verständnis und den Inhalt unserer Bildung darauf ausrichten, die negativen Auswirkungen zu überwinden, die dadurch entstanden sind, dass die Studierenden – und auch viele Dozentinnen – keine Bildungsmöglichkeiten in ihrer Muttersprache hatten und Geschichte und Gesellschaftskunde unter dem Einfluss eines anderen Paradigmas studiert haben.«
Aufgrund von Krieg, Embargo und ökonomischen Schwierigkeiten sind die räumlichen und materiellen Möglichkeiten der Jineolojî-Fakultät bislang begrenzt. Ursprünglich war geplant gewesen, die Fakultät in einem eigenständigen Gebäude zu eröffnen. Da dies aber derzeit noch zur Unterbringung von Flüchtlingen aus Raqqa benötigt wird, konnte dort nicht wie geplant mit den Bauarbeiten begonnen werden. Deswegen hat die Jineolojî-Fakultät in diesem Jahr zunächst einmal in einem Flügel des Gebäudes der Bildungsfakultät an der Universität Rojava in Qamişlo mit ihren Arbeiten begonnen.

Der räumliche Aufbauprozess beinhaltet auch den Plan, zukünftig kollektive Unterbringungs- und Studienmöglichkeiten für Studierende und Dozentinnen zu schaffen, die aus anderen Städten, Kantonen und Ländern kommen und an der Fakultät für Jineolojî studieren und arbeiten wollen. Derzeit fehlen hierfür die finanziellen und räumlichen Voraussetzungen. Deshalb müssen Mitarbeiterinnen und Studentinnen täglich kommen und gehen, was die Teilnahmemöglichkeiten für viele interessierte Frauen einschränkt: »Da wir unsere Fakultät unter den Bedingungen des Krieges aufbauen, sind unsere Möglichkeiten sehr begrenzt. Jedoch arbeiten wir daran, dass wir zukünftig auch Studentinnen und Dozentinnen aus anderen Teilen Kurdistans und aus anderen Ländern an unserer Fakultät aufnehmen können. Wir hoffen, dass uns das auch gelingen wird.«
Die Jineolojî-Fakultät kann eine wichtige Rolle dabei spielen, Jineolojî regional und international auszuweiten. Bezüglich des Aufbaus von Kontakten zu alternativen Bildungseinrichtungen, Universitäten und AkademikerInnen sowie zu den Vorstellungen für internationale Zusammenarbeit erklärt Zozan Sima: »Unser vorrangiges Ziel ist es, Beziehungen zu Universitäten und Akademikerinnen aufzubauen, die einen alternativen Standpunkt haben. Mit ihnen möchten wir einen gegenseitigen Erfahrungsaustausch beginnen. Insbesondere suchen wir den Austausch mit Akademikerinnen aus der Frauenforschung; mit feministischen, ökologischen und anarchistischen Akademikerinnen; mit AkademikerInnen, die alternative sozialwissenschaftliche Ansätze gegenüber den positivistischen Sozialwissenschaften verfolgen.

In Rojava wollen wir ein Bildungssystem aufbauen, das auf dem Paradigma von Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung beruht. In diesem Kontext hat unsere Fakultät eine wichtige Bedeutung. In vielen Ländern der Welt ist die Frauenforschung auf den akademischen Bereich begrenzt geblieben und konnte keine ausreichende Rolle für die Veränderung der Gesellschaft spielen. In der Demokratischen Föderation Nordsyrien gibt es viele Möglichkeiten und eine breite Basis, um gesellschaftliche Veränderungen mit der Perspektive der Frauenbefreiung voranzutreiben. Wir wenden uns an alle Akademikerinnen, die ein Interesse an freiheitlicher gesellschaftlicher Veränderung haben: Einerseits gibt es viele Möglichkeiten uns bei unseren Anstrengungen – ideell oder materiell – zu unterstützen, andererseits können sie mit uns Verbindungen knüpfen, um die Dynamiken dieser Frauenrevolution, die im Mittleren Osten begonnen hat, in ihre eigenen Länder zu tragen …«
Dieser Aufruf sollte nicht ungehört bleiben, denn letztendlich artikulieren Frauen weltweit das Bedürfnis nach neuen Perspektiven im Kampf gegen Sexismus und Ausbeutung. Es ist an der Zeit, dass die Diskussionen über Jineolojî, die in verschiedenen Ländern begonnen haben, an allen Orten von einem theoretischen Aufbruch in die Praxis und in bleibende, alternative Strukturen für die Befreiung von Frau und Gesellschaft verwandelt werden.
****
Dieser Beitrag ist zuerst auf der Internetseite jineoloji.org erschienen. Unter dem Titel: »Jineolojî – Eine Wissenschaft um Frauen herum zu entwickeln, wird der erste Schritt in Richtung einer wahrhaften Soziologie sein« werden dort Hintergrundartikel zu Jineolojî in acht verschiedenen Sprachen veröffentlicht. Auch das Programm des zweijährigen Studiengangs an der Jineolojî-Fakultät der Universität Rojava ist dort einzusehen: http://jineoloji.org/de/ 2017/10/02/programm-des-2 jaehrigen-studiengangs-an-der-jineoloji-fakultaet-der-universitaet-rojava/[1]

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