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Der lange Weg nach Lausanne
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Manfred Rösch

Manfred Rösch
Vor just einem Jahrhundert ging die lange Epoche des Osmanischen Reichs zu Ende. Der Streit darüber, wer das Land in den Friedensverhandlungen in Lausanne vertreten sollte, entzweite den Sultan und die aufständischen Offiziere endgültig.
Manfred Rösch

Eine Einladung nach Lausanne besiegelte das Ende des Osmanischen Reichs. Am 27.-10- 1922 erreichte sie – abgesandt von den Siegermächten Grossbritannien, Frankreich und Italien – Istanbul und Ankara. Das waren die beiden zerstrittenen Machtzentren des geschlagenen Imperiums: in Istanbul die «Hohe Pforte», also die Regierung des Sultans bzw. seines Grosswesirs; in Ankara das Hauptquartier des Heerführers Mustafa Kemal Pascha und seiner Grossen Nationalversammlung.

Grosswesir Tevfik Pascha, der Ministerpräsident des Sultans, schlug Kemal eine gemeinsame Verhandlungsdelegation vor. Dieser Affront war einer zu viel. Kemal beantragte seiner Nationalversammlung, den Sultan und dessen Kabinett für abgesetzt zu erklären. Am 1. November 1922, vor hundert Jahren, besiegelte die Versammlung in diesem Sinn das Ende des ottomanischen Reichs.

Damit ging eine Epoche von 623 Jahren zu Ende. Die Dynastie gegründet haben soll ihr Namensgeber Osman anno 1299. Der letzte Sultan, Mehmed VI. Vahideddin, schlich sich am 17-11- 1922 aus dem Dolmabahçe-Palast und dampfte auf einem britischen Kriegsschiff ins Exil.
Ein Imperium auf drei Kontinenten

Wie hatte das Sultanat den Zorn der Offiziere um Kemal auf sich gezogen, wo sich dieser doch selbst stets als loyalen Ottomanen, und nicht, im alten Vielvölkerreich, bloss national als Türken bezeichnet hatte? Er, der den Monarchen geschont und die Grosswesire kritisiert hatte? Die Geister schieden sich an der Frage, ob nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg der Wille der Sieger zu vollstrecken war, wie es der Sultan wünschte, oder ob man sich dagegen wehren wollte, wie Kemal.

«Die Geister schieden sich an der Frage, ob nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg der Wille der Sieger zu vollstrecken war, wie es der Sultan wünschte, oder ob man sich dagegen wehren wollte wie Kemal.»

Der «Mann am Bosporus» galt nämlich im späteren 19. Jahrhundert als krank, so sprachen die Mächtigen Europas damals vom einst gefürchteten Osmanischen Reich. Erst 1683 waren die Türken vor Wien gestanden und in extremis zurückgeschlagen worden. Damals erstreckte sich die Macht Istanbuls noch über Nordafrika, die Levante, grosse Teile der Arabischen Halbinsel, Gebiete im Kaukasus, über den ganzen Balkan, fast rund ums Schwarze Meer (die ach so erzrussische Krim war ein indirekt beherrschtes Khanat).

Seit dem europäischen Schicksalsjahr 1453 war Istanbul die Herzkammer eines fortwährend expandierenden Reichs gewesen. Sultan Mehmed II. hatte seinerzeit das alte Konstantinopel erobert und damit das Byzantinische Reich vernichtet. Über das anatolische Kernland hinaus drang dann das osmanische Imperium auf drei Kontinenten vor – Asien, Afrika, Europa.
Unter dem Joch der Jungtürken

Just ab der zweiten Belagerung Wiens kamen die Osmanen jedoch nicht mehr aus dem Rückwärtsgang. Um 1880 hatten die Sultane die europäischen Reichsteile weitgehend verloren. Die Zaren, in ihrem Drang zu den warmen Wassern, waren längst auf die Meerengen erpicht; sie fühlten sich ohnehin als Byzanz’ Erben. 1878 standen sie vor der Einnahme Istanbuls, was jedoch die anderen europäischen Mächte nicht duldeten. Auch in den arabischen Vilâyets, den Provinzen, gärte es. Das Reich war überschuldet, sein Militär schwach, die Wirtschaft rückständig.

Als Europa in den Ersten Weltkrieg schlitterte, stellte sich die Türkei, die als neutraler Staat vor allem Russland gegenüber schutzlos gewesen wäre, an die deutsche Seite. Damals regierten die «Jungtürken», eine Reformbewegung, die sich 1908 an die Macht geputscht hatte und sich den damaligen Sultan Mehmed V. als Marionette hielt. Es war während ihres Regimes, dass ab 1915 die Massaker an der armenischen Bevölkerung verübt wurden.

Mit dem Sieg der Entente und der Niederlage der Mittelmächte folgten ab 1918 die kurzsichtigen Pariser Vorortverträge: Versailles mit Deutschland, Saint-Germain-en-Laye mit Deutschösterreich, Neuilly-sur-Seine mit Bulgarien, Trianon mit Ungarn und, im August 1920, Sèvres mit dem Osmanischen Reich. Dieser Diktatfrieden zerstückelte das einstige Imperium und sah ausländische (Briten, Franzosen, Italiener, Griechen) Kontrolle über den osmanischen, nun weitgehend türkisch bevölkerten Rest- bzw. Kernstaat vor. Nach dem Sturz der Jungtürken 1918 war der neue Sultan Mehmed VI. Vahieddin bereit, diese bitteren Pillen zu schlucken, um noch Schlimmeres zu verhüten – und um die Dynastie auf dem Thron zu halten.
Smyrna wurde Izmir, Selanik Thessaloniki

Dagegen wandte sich die Nationalbewegung des Kriegshelden Kemal entschieden. Der Vertrauensverlust gipfelte eben in der Demontage des Sultans. Kemal stiess mit seinen Truppen aus Zentralanatolien gegen die griechischen Kräfte westwärts vor. Eine entscheidende Schlacht fand am Fluss Sakarya statt. Davon sagte ein türkischer Dichter sinnig: «Der in Wien begonnene Rückzug wurde am Sakarya aufgehalten.» In der Tat, Kemal warf die Griechen aus Anatolien – der Krieg war verwickelt und grausam; freilich betrugen sich auch die Griechen nicht barmherzig christlich.

Damit war Sèvres obsolet, und Kemal gelang die erhoffte Revision. 1923 kamen die Lausanner Verhandlungen und schliesslich ein Abkommen zustande. Die Türkei, nunmehr eine Republik in den heutigen Grenzen, ein Nationalstaat mit nach wie vor heiklen Minderheitsfragen (etwa betreffend die Kurden), war international anerkannt. Mit Griechenland hatte ein grosser Bevölkerungsaustausch stattgefunden. Smyrna war jetzt Izmir und rein türkisch, Atatürks Geburtsstadt Selanik war nun Thessaloniki und rein griechisch. 1936 erhielt die Türkei in Montreux (türkisch: «Montrö») die volle Souveränität über die Meerengen zurück.
Erdogans Ärger über «Lozan»

Kemal Atatürk peitschte die Säkularisierung, Modernisierung und Verwestlichung der türkischen Gesellschaft durch, doch ein Jahrhundert später ist der «Backlash» im Gang. Recep Tayyip Erdogan, ab 2003 Regierungschef, seit 2014 Präsident (und kein Ende in Sicht) fördert alles Fromme und schwärmt für die glorreichen Osmanen – auch so ein Geschichtspolitiker, der Nostalgie mit Zukunft verwechselt. Erdogan verfolgt eine zunehmend robuste Aussenpolitik. Zum Beispiel unterstützt Ankara die nahen Verwandten in Aserbaidschan gegen das wieder einmal existenziell gefährdete Armenien. Zudem entfremdet er sich, einem Plausch mit dem Seelenverwandten Putin nie abgeneigt, zusehends von den Nato-Partnern.

Übrigens besuchte 2008 der damalige türkische Staatspräsident Abdullah Gül die Schweiz. Bundespräsident Pascal Couchepin schenkte ihm geschichtsträchtiges Mobiliar: den Tisch, an dem der Vertrag von Lausanne unterzeichnet worden war. Erdogan dürfte sich über diesen subtilen Wink geärgert haben. Er verkraftet es ja kaum, dass in Sichtweite vor der Ägäisküste griechische Inseln liegen, weshalb er regelmässig die Revision der Revision fordert: Die Grenzen gemäss «Lozan», wie die Türken kompakt schreiben, seien eine Schmach. Affaire à suivre.[1]

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