Als Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus und auch als Freund der verfolgten Religionsgemeinschaft des Jesidentums verfolge ich stets die Nachrichten aus dem Nahen und Mittleren Osten. Und was ich aktuell sehe, lese und höre, beunruhigt mich zutiefst!
In den letzten Wochen kommt es im Norden des Irak und der Autonomieregion Nordirak-Kurdistan erneut zu religiös-motivierten Gewaltaufrufen gegen Jesidinnen und Jesiden. Vertriebenen wird die Rückkehr in ihre angestammten Siedlungsgebiete verwehrt, teilweise müssen sie sogar aus Flüchtlingslagern fliehen, in denen sie von Hass und Hetze bedroht werden. Die falschen Behauptungen gegen die Jesidinnen und Jesiden verbreiten sich dabei rasend schnell über digitale Kanäle. Und erreichen dadurch in sehr kurzer Zeit sehr viele Menschen. Diese Form der digitalen Hetze gibt es nicht nur im Irak. Auch hier bei uns in Deutschland und in vielen anderen Ländern ist zu beobachten, wie schnell sich Falschnachrichten über digitale Medien verbreiten. Und wie sich Menschen in digitale Blasen und Echoräume zurückziehen, in denen “alternative Realitäten”, also Lügen, vertreten werden. Der gemeinsame Raum des Weltverstehens verschwindet. Wir haben nur eine Chance, wenn wir hier gemeinsam dagegenhalten. Wenn wir unsere Stimme erheben und die falschen Behauptungen enttarnen. Und gerade wenn es gegen kleine Gruppen und Religionsgemeinschaften geht, müssen wir solidarisch zueinander stehen.
Es ist erst knapp 9 Jahre her, dass es am 3. August 2014 zu Angriffen des selbsternannten „Islamischen Staates“ / Daesh auf die Siedlungsgebiete der Jesidinnen und Jesiden im Shingal kam. Der Bundestag hat diese Verbrechen inzwischen zu Recht als Völkermord anerkannt. Damals entschied das Land Baden-Württemberg, 1.100 besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Norden des Irak aufzunehmen. Als Leiter dieses Sonderkontingents habe ich ab 2015 mit einem tapferen Team aus Freiwilligen bei den Reisen die Region und ihre Menschen gut kennengelernt.
Wir haben nur eine Chance, wenn wir hier gemeinsam dagegenhalten. Wenn wir unsere Stimme erheben und die falschen Behauptungen enttarnen.
Und die Region hat mit großen Herausforderungen zu kämpfen: Die Temperaturen steigen, Wasser wird knapp, Landwirtschaft in ehemals fruchtbaren Landesteilen unmöglich. Der Druck für jeden Einzelnen, überlebenswichtige Ressourcen zu sichern, steigt. Und so kämpfen ethnische und religiöse Gruppen im Ringen ums Überleben gegeneinander und legitimieren Gewalt, Vertreibungen und auch Genozide gegen Minderheiten wie das Jesidentum durch gefährliche Verschwörungsmythen. Auch die jüngsten Gewaltaufrufe basieren auf falschen Unterstellungen gegen die friedliche Minderheit – und machen es notwendig, dass die staatlichen Akteure in Irak und Kurdistan-Irak einen wirksamen Schutz von Minderheiten vor erneuten Übergriffen sicherstellen.
Dass auch verschiedene Religionen und Kulturen im Nahen Osten friedlich miteinander leben können, muss dabei keine Utopie sein. So wurde im Sommer 2022 das christliche Kloster Deir Mar Musa in der syrischen Wüste, 80 Kilometer nördlich von Damaskus, wieder eröffnet. Die Nonnen und Mönche dieses auch von Muslimen geehrten Steinklosters haben sich der ökumenischen Begegnung, insbesondere mit dem Islam verschrieben. Der Deutsch-Jeside Mirza Dinnayi eröffnete in Sinun im Sindschar ein Begegnungszentrum der Religionen und Kulturen, das auch von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock aufgesucht werden konnte. Die Hilfsaktion „Helfen bringt Freude“ der Schwäbischen Zeitung konnte bereits zweieinhalb Millionen Euro für Projekte zugunsten der Verfolgten sammeln. Um Prof. Jan-Ilhan Kizilhan werden in Dohuk Traumatherapeutinnen und –therapeuten ausgebildet. Viele ehrenamtliche Stellen wie die Stelle für Jesidische Angelegenheiten, der Zentralrat der Jesiden in Deutschland, Nadia’s Initiative, Hawar:Help, die Gesellschaft für bedrohte Völker, Farida e.V., Yazda und andere leisten konkrete Hilfe für die Menschen vor Ort und für ein Zusammenleben in Frieden.
Ich bitte Sie, entsprechende Initiativen weiterhin zu unterstützen. Ich bitte die europäische Außenpolitik, entschlossener jene Kräfte zu unterstützen, die für ein Miteinander der Religionen auch konkret in Kurdistan-Irak eintreten. Lassen Sie uns weltweit all jenen entgegentreten, die Hass und Hetze zwischen den Religionen, Völkern und Staaten schüren. Wer ein Volk, einen Staat, eine Religionsgemeinschaft vernichten will, vor dem ist kein Volk, kein Staat, keine Religionsgemeinschaft sicher.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit für das verfolgte Jesidentum.
Dr. Michael Blume, Baden-Württemberg.[1]