„Geruch von Müll und süßen Äpfeln“ – das titelte Spiegel Online am 15.-03-2013 anlässlich des 25. Jahrestages des irakischen Giftgasangriffs auf das kurdische Dorf Halabja. Der Artikel erinnerte an das grausame Sterben von 5.000 kurdischen Dorfbewohner*innen in Halabja, nachdem der irakische Herrscher Saddam Hussein den Einsatz von Giftgas gegen die kurdische Zivilbevölkerung befohlen hatte. Der Spiegel schrieb, dass die anschließende Empörung des Westens „so groß wie heuchlerisch“ gewesen sei. Jahrelang hatten westliche Regierungen die Waffenindustrie des irakischen Regimes beliefert. Auch die Bundesregierung hatte massenhaft Bestandteile für die Produktion von chemischen Waffen in den Irak exportiert. Wie konnte es so weit kommen?
„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“
In der Spätphase des Iran-Irak-Krieges (1980-1988) ging das irakische Militär im Februar 1988 in der Operation „Anfal“ gegen im Norden Iraks lebende Kurden und andere nichtarabische Minderheiten (Assyrer, Jesiden) vor. Die zwei größten kurdischen Organisationen hatten sich im Krieg mit dem Iran verbündet. Schon in der Vergangenheit waren die Kurden Opfer von Massenverbrechen und ethnischen Vertreibungen durch die irakische Regierung geworden. Nun sollten sie im Rahmen der Operation Anfal aus Teilen Nordiraks endgültig „ausgelöscht“ werden. Anschließend sollten die Regionen „arabisiert“ werden.
Von Februar bis September 1988 dauerte die Anfal-Operation. Im Verlauf zerstörte das irakische Militär massenhaft kurdische Siedlungen und massakrierte kurdische Zivilist*innen, vor allem Männer in kampffähigem Alter. Besonders grausam war dabei der Einsatz chemischer Waffen – der wohl größte seit Ende des 1. Weltkrieges. Der Chemiewaffenangriff auf das kurdische Dorf Halabja am 16. März 1988 zog schließlich das Aufsehen der Weltöffentlichkeit auf sich. Dem Angriff fielen 5.000 Menschen zum Opfer. Human Rights Watch spricht von insgesamt 50.000 bis 100.000 Opfern der Anfal-Operation. Die Massenverbrechen endeten im September 1988, nachdem der größte Teil der ehemaligen kurdischen Gebiete „entsiedelt“ worden war.
Deutsche Reaktionen auf die#Anfal-Operation#
Je länger der Iran-Irak-Krieg andauerte, desto mehr Berichte über den Einsatz deutscher Waffengüter gab es. So berichtete im September 1987 ein dpa-Journalist, dass er einen Panzer deutscher Produktion in den Händen iranischer Streitkräfte gesichtet hatte. 1986 und 1987 stellte die oppositionelle SPD-Fraktion einen Antrag um den Konflikt und die deutsche Rolle darin im Bundestag zu diskutieren. Jedoch wurde erst im Mai 1988, nach Bekanntwerden des Giftgasangriffs in Halabja, über eine mögliche Verwicklung der BRD im Bundestag gesprochen. Vorausgegangen war die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen, in der die Regierung zu Hinweisen auf die illegale und legale Beteiligung deutscher Firmen am Krieg bedrängt wurde.
In der anschließenden Bundestagsdebatte machten oppositionelle Abgeordnete von SPD und Grünen deutlich, dass sie die BRD wegen erster Erkenntnisse zur Lieferung deutscher Waffengüter für mitschuldig am Krieg befanden. Zu diesem Zeitpunkt war das ganze Ausmaß deutscher Beteiligung noch nicht bekannt. Ebenso übte die Opposition scharfe Kritik am irakischen Regime und bezichtigte es der jahrelangen „systematischen Vergasung kurdisch und assyrisch-christlicher Siedlungsgebiete“. Auch die Abgeordneten der CDU/CSU-FDP Regierungskoalition schlossen sich der klaren Kritik am Einsatz von Chemiewaffen an, allerdings ohne die Iraker als Hauptverantwortliche auszumachen. Zudem kündigten Regierungsabgeordnete an, dass sich die Bundesrepublik in den Vereinten Nationen für ein weltweites Chemiewaffenverbot einsetzen würde. In einer Plenardebatte vom September 1988 beschrieb ein SPD-Abgeordneter dann auch das Vorgehen der irakischen Regierung gegen die Kurden als „Völkermord“.
Deutsche Medien zeigten sich schockiert vom irakischen Giftgaseinsatz. So sprach die Badische Zeitung von einem „derzeit wohl einmaligen Kriegsverbrechen“. Infolge der durch den Chemiewaffeneinsatz offensichtlich gewordenen Verfolgung der Kurden widmeten sich deutsche Medien ausgiebig ihrer aktuellen Situation und Geschichte. In ihrer Berichterstattung sympathisierten deutsche Journalist*innen klar mit den von Vertreibung und Rassismus geplagten Kurden. Als der deutschen Bevölkerung durch Medienberichte dämmerte, wie sehr die BRD in die irakische Chemiewaffenproduktion verstrickt war, wuchs vor dem Hintergrund der genannten Sympathie Empörung. In einem Artikel über verschleppte Ermittlungen zu deutschen Chemielieferungen zitierte der Spiegel einen Mitarbeiter der deutschen Ärzteorganisation „medico international“ mit den Worten: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Der Zeit-Journalist Theo Sommer verdeutlichte die besondere Verantwortung der Bundesrepublik im Umgang mit Giftgas mit einem Verweis auf die deutsche Geschichte: Erinnert Euch an den deutschen Einsatz von Giftgas im 1. Weltkrieg, erinnert Euch an Belzec, Treblinka und Auschwitz.
Das Thema Chemiewaffen war nun endgültig als Problem in der Politik und Öffentlichkeit angekommen. So wurde Deutschland der erste Staat der Welt, der verbindlich auf Herstellung, Weitergabe und Einsatz von Chemiewaffen verzichtete. Im Zuge der Wiedervereinigung kam heraus, dass die DDR irakische Soldat*innen zum Einsatz von Chemiewaffen ausgebildet hatte. Zudem kamen immer mehr Informationen zum Beitrag deutscher Firmen zur irakischen Kriegsmaschinerie und zum demgegenüber mindestens grob fahrlässigen Verhalten der Bundesregierung ans Licht. Die Opposition und kritische Medien stellten die Regierung dafür an den Pranger. Das vernichtende Urteil einer PDS-Abgeordneten lautete: „Die Maxime der Genehmigungspraxis [für Waffenexporte] ist schlicht: im Zweifel für den Export“. In einem Artikel vom 15. März 1991 sprach die „Zeit“ gar von einem jahrelangen „Betrug“ der Bundestagsabgeordneten durch die Bundesregierung. Der lange erwartete Bericht der Regierung bestätigte zwar die illegale Beteiligung einer Reihe von deutschen Firmen an der irakischen Waffenproduktion, umging allerdings die Frage der strukturellen Ursachen für die laxen Exportkontrollen.
Das Ende der Anfal-Operation im September 1988 bedeutete nicht das Ende des Leidenswegs der Kurden. Auch nachdem große Teile der irakisch-kurdischen Bevölkerung aus vielen Gebieten Nordiraks vertrieben und getötet worden waren, hielten die Angriffe der irakischen Armee auf kurdische Stellungen an. Hinzu kam, dass in den kurdischen Gebieten der Türkei Kämpfe zwischen dem türkischen Militär und kurdischen Gruppen ausbrachen, die die kurdischen Flüchtlinge aus dem Irak oft in Mitleidenschaft zogen. Angesichts dessen blieb die Situation der Kurden im Bundestag und in den deutschen Medien präsent und wurde insbesondere an den Jahrestagen des Giftgasangriffs in Halabja aufgegriffen. Die Bundesregierung setzte sich mit humanitären Hilfsleistungen für kurdische Flüchtlinge ein (bis 1991 80 Millionen DM) und fuhr gegenüber der irakischen Regierung einen harten Kurs. Doch gegenüber der Brutalität gegen kurdische Zivilist*innen durch die Türkei, wichtiger Partner in Wirtschaft und NATO, zeigte sich die deutsche Regierung trotz der geäußerten Kritik deutlich nachgiebiger.
Nach 1992 verschwand das Thema eines Völkermords an den Kurden zunächst aus der deutschen Öffentlichkeit. Erst 1997 und 1998 erschienen wieder nennenswerte Meldungen dazu. So schrieb die „Sueddeutsche“ 1997, dass bis zu 70% der Giftgasproduktionsanlagen im Irak aus der Bundesrepublik stammten. Anfang 1998 gab es europaweit Diskussionen um die Aufnahme von kurdischen Flüchtlingen vor allem aus der Türkei, in denen die Bundesregierung sich gegen eine weitere Aufnahme sperrte. Medico international erklärte 1998, dass „deutsche Firmen für diese chemischen Waffen die Technologie und die wissenschaftliche Grundlage“ geliefert hatten. Dennoch erklärte die Bundesregierung 2001 in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der damaligen PDS (heute Linke), dass die „ausschließliche Verantwortung für die Vorfälle von Halabja“ bei der irakischen Regierung liege und dass eine „wie immer geartete Mitverantwortung der Bundesregierung“ nicht bestehe. Auch im Jahr 2008 lehnte die regierende Große Koalition (SPD, CDU/CSU) anlässlich des 20. Jahrestages des Angriffs auf Halabja einen Antrag der Opposition ab, wonach die Bundesregierung offiziell eine Mitverantwortung und das bis dahin bestehende Ausbleiben von Entschädigungszahlungen erkennen müsste. Diese Position wiederholte die schwarz-gelbe Koalition 2010 und machte darüber hinaus erneut deutlich, dass die BRD die Anfal-Operation und den Giftgasangriff von Halabja nicht als Genozid anerkenne.
Die letzte ausführliche Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Kurden fand im Bundestag 2013 statt, zum 25. Jahrestag des Halabja-Angriffs. Die Konfliktlinien blieben dabei bestehen: Zum wiederholten Male versuchte die Opposition, im Namen des Bundestags den Völkermord an den Kurden anzuerkennen. Die Regierung äußerte dieses Mal zwar ein „tiefes Bedauern“ über die „illegalen Lieferungen deutscher Firmen“ für die Chemiewaffenproduktion. Sie weigerte sich jedoch weiterhin die Wörter „Völkermord“ oder „Genozid“ in den Mund zu nehmen, wahrscheinlich um möglichen Entschädigungszahlungen auszuweichen. Damit erkennt die Bundesrepublik bis heute nicht offiziell den Völkermord an den Kurden an, während andere Parlamente, z.B. das britische, norwegische oder kanadische, dies bereits getan haben.
Mit Blick auf die letzten 30 Jahre zeichnet sich ab, dass die deutsche Politik in einer Mischung aus Entschlossenheit, Mitgefühl und jahrelanger Selbsttäuschung auf die Anfal-Operation reagierte. Als deutsche und ausländische Medien wiederholt aufzeigten, wie tief deutsche Firmen im Sumpf der irakischen Chemiewaffenproduktion steckten und wie wenig die bestehenden Exportkontrollmechanismen griffen, wurde Politik und Bevölkerung langsam klar, dass auch Deutschland eine Mitverantwortung zu tragen hatte und dementsprechend seine Exportpraxis stärker einschränken müsste.
Quellen
Weitere Beiträge von Genocide Alert zum Thema
» Deutschland und die Umsetzung der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect)
Verweise im Text
Spiegel (2013): Geruch von Müll und sauen Äpfeln. URL: http://www.spiegel.de/einestages/giftgasangriff-auf-halabdscha-1988-a-951065.html
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Spiegel 2013
Human Rights Watch (1993): Chapter Three: First Anfal: The Siege of Sergalou and Bergalou, February 23-March 19, 1988. URL: https://www.hrw.org/reports/1993/iraqanfal/ANFAL3.htm
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Protokoll der Plenarsitzung vom 7.11.1991. URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12054.pdf.
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Protokoll der Plenarsitzung vom 14.3.2013. URL: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17228.pdf.[1]