Von Prof. Dr. Ferhad Ibrahim Seyder und Sarah Podszuck
In der Türkei herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Die etablierten Medien berichten wenig darüber. Wo liegen die Ursachen für die Feindschaft zwischen der Türkei und den Kurden? Ein Interview mit Prof. Dr. Ferhad Ibrahim Seyder.
KATAPULT: Der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und den Kurden ist kein neuer Konflikt. Bereits kurz nach der Gründung der Republik Türkei (1923) gab es erste Auseinandersetzungen. In den Jahren von 1984 bis 1999 kostete der Krieg zwischen der kurdischen Untergrundorganisation PKK und türkischen Sicherheitskräften 40.000 Menschen das Leben. Davon waren 30.000 kurdischer Abstammung. Was sind die Ursachen für diese Feindschaft?
Seyder: Der türkische Politikwissenschaftler Metin Heper hat den Ursprung der Kurdenfrage in der Türkei in drei Begriffen zusammengefasst: Nichtanerkennung, Rebellion und Unterdrückung. Die Kurden waren im Rahmen des Osmanischen Reiches ein Teil der sunnitisch-islamischen Mehrheit.
Eine Kurdenfrage formierte sich mit der Zentralisierung des Staates und folglich Unterwerfung der lokalen Autoritäten. Auch Kurdistan wurde von diesen Maßnahmen getroffen. Der Konflikt hörte mit der Abschaffung des Sultanats und der Gründung der Republik 1924 nicht auf.
Der Führer der neuen Türkei Kemal Atatürk (1881-1938) wollte die ethnische Vielfalt des Landes nicht anerkennen. Nach seiner Auffassung leben in der Türkei, abgesehen von der ethnischen Abstammung, nur Türken. Die nationale Anpassung wurde das Staatsprinzip der Türkischen Republik. Die Kurden reagierten auf die Nichtanerkennung mit einer Reihe von Rebellionen (1925-1938).
Der Staat unterdrückte den Wunsch der Kurden nach ethnischer Autonomie. Der kurdische Ethnonationalismus machte sich ab den 1960er Jahren erneut bemerkbar. Die Arbeiterpartei Kurdistans, die 1978 gegründet wurde, betrachtete Kurdistan als eine Kolonie, deren Befreiung sie sich zum Ziel machte.
Der Führer der Partei, Abdullah Öcalan, flüchtete nach dem Militärputsch von 1980 nach Syrien. Von dort aus leiteten Öcalan und seine Partei ab 1984 den Guerillakrieg. Laut Programm der PKK und weiterer Dokumente in den 1980er und 1990er Jahren war das Ziel die „Befreiung“ Kurdistans.
Die PKK hat ihr Ziel nicht erreichen können. Das kurdische Hinterland wurde verwüstet und viele Menschen kamen im Kurdenkrieg um. Millionen von Kurden verließen ihre Heimat und ließen sich in den Siedlungen um die türkischen Großstädte nieder.
KATAPULT: Nicht nur die Türkei – auch die EU, die USA und Deutschland – stufen die PKK als Terrororganisation ein. Das Ziel der PKK wird je nach Quelle unterschiedlich ausgelegt: von der Errichtung eines eigenständigen Staates Kurdistan bis hin zu einem staatsähnlichen Gebilde aber ohne staatliche Verwaltung. Worum geht es den Kämpfern wirklich und welche Mittel werden zur Durchsetzung eingesetzt?
Seyder: Die #PKK# instrumentalisierte in der ersten Phase des Guerillakriegs gegen ihre Gegner. Ihre Gegner waren alle, die gegen die Ziele der Arbeiterpartei waren. So wurden die Mitglieder anderer kurdischer Parteien bekämpft, aber Abtrünnige in den eigenen Reihen wurden durch drakonische Strafen diszipliniert.
Als die türkische Regierung Mitte der 1980er Jahre die kurdischen Bauern als „Dorfschützer“ bewaffnete und finanzierte, zögerte die PKK nicht, gegen diese im Dienst des Staates kämpfenden Bauern einen umfassenden Krieg zu führen.
Die Gewalt war in Kurdistan allgegenwärtig: der Krieg zwischen der türkischen Armee und der PKK, der innerkurdische Krieg der PKK gegen die „Dorfschützer“ und andere kurdische Gegner. Die PKK terrorisierte vor allem seine kurdischen Gegner. Wiederholt wurden auch die Familien der Dorfschützer zum Ziel der Gewalt gemacht.
Die türkische Armee zögerte ihrerseits nicht, im Rahmen des Anti-Guerilla-Krieges die Bevölkerung zu terrorisieren (Zerstörung der Siedlungen, Zerstörung der wirtschaftlichen Lebensgrundlage, Vertreibung). Die Türkei reduzierte die ungelöste ethnische Frage des Kurdenproblems allein auf dessen Terroraspekte.
Die Verbündeten der Türkei zogen mit und erklärten in die erste Hälfte des 1990er Jahren die PKK zu einer terroristischen Vereinigung. Die PKK trug allerdings auch dazu bei, dass sie im Westen verboten wurde: Gewaltsame Aktionen, illegale Parteigerichte sowie eine Revolutionssteuer, die kurdischen Migranten abverlangt wurde, untermauerten den Vorwurf des Terrorismus.
Nach der Verhaftung Öcalans Ende 1998 fand in der Programmatik der PKK ein fundamentaler Wandel statt, der in den folgenden Jahren die politisch-ideologische Zielsetzung der Partei veränderte. Die PKK nahm Abstand von einem selbständigen kurdischen Staat. Der Nationalstaat wurde per se als undemokratisch abgelehnt. Die PKK plädierte dann für eine radikale Basisdemokratie, die auf ein Netzwerk von lokalen autonom-demokratischen Zusammenschlüssen basiert sein sollte.
Da die Ideen, die Abdullah Öcalan in seinen Gefängisschriften formulierte, in der Türkei nicht umgesetzt werden konnten, realisierte die PKK diese in den syrisch-kurdischen Siedlungsgebieten. Diese Gebiete waren in der Folge der Rebellion gegen das Regime von Bashar al-Assads durch einen syrischen Ableger der PKK – nämlich der Partei der Demokratischen Einheit – in kurdische Herrschaft geraten.
KATAPULT: Die PKK verübt regelrechte Terroranschläge gegen den türkischen Staat, bei denen mitunter auch Zivilisten getötet werden. Wie rechtfertigt die PKK derartige Gewalt?
Seyder: In der ersten Phase des Kurdenkrieges, also in den 1980er und 1990er Jahren, vollzogen sowohl die PKK als auch die türkische Armee terroristische Kriegshandlungen. Der Terror der PKK richtete sich vor allem gegen die Gegner in den Reihen der Kurden. Die türkische Armee zerstörte die sozioökonomischen Bedingungen im kurdischen Hinterland und entvölkerte dadurch Teile der kurdischen Region.
Die Untersuchungen der türkischen offiziellen Organe nach der Machtübernahme der AKP offenbarten, dass die Tötung von vielen kurdischen Intellektuellen, Journalisten und lokalen Politikern auf das Konto der türkischen Sicherheitsorgane ging. Terror ging also von beiden Kriegsparteien aus.
KATAPULT: Seit der Parlamentswahl im Sommer 2015, bei der erstmals eine prokurdische Partei in die sogenannte Große Nationalversammlung einzog, ist der Konflikt erneut aufgeflammt. Ende November 2015 wurde der kurdische Anwalt Tahir Elci6 während eines öffentlichen Interviews erschossen. Seit einigen Wochen herrscht im Osten der Türkei ein brutaler Häuserkampf. Es wird sogar von Bürgerkrieg gesprochen. Gibt es eine Lösung für diesen tiefsitzenden Konflikt? Wenn ja, wie sieht diese aus?
Seyder: Die neue Phase des Kurdenkrieges, die im Spätsommer 2015 ausbrach, hat viele Facetten und vielfältige Ursachen. Es wurde erwartet, dass der legale politische Arm der PKK, die HDP, die bei den Wahlen im letzten Jahr die 10-Prozent-Hürde überwunden hatte und als Fraktion ins türkische Parlament einzog, mehr an Einfluss gewinnen würde.
Die HDP nutze die politische Chance, die sie durch die Wahlen erzielt hatte, jedoch nicht. Sowohl nach den ersten als auch nach der zweiten Wahlen entstand der Eindruck, dass sie alles unternehmen will, um die Position der AKP zu schwächen. Es ist zu vermuten, dass die PKK/HDP von dem Verlauf der Friedensverhandlungen, in denen die AKP eine „Salami-Taktik“ verfolgte, enttäuscht war.
Die AKP wollte keinen mutigen Schritt nach vorn machen, um Rücksicht auf ihre Wähler zu nehmen. Denn ein solcher Schritt hätte die verfassungsmäßige Anerkennung der Kurden als Minderheit bedeuten müssen. Die Anerkennung hätte den sich wiederholenden Prozess von Nichtanerkennung-Rebellion beenden können. Eine symbolische Geste wäre die Freilassung von Abdullah Öcalan, der zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt ist. Die Frustration unter den Kurden war und ist groß.
Es ist zu vermuten, dass die Führung der PKK, die von ihren Stützpunkten im irakischen Kurdistan aus agiert, eine andere Agenda verfolgt als die HDP. Die Führung der PKK, Cemil Bayik, Duran Kalkan und Murat Karayilan, ist mit dem proiranischen Lager im Nahen Osten verbündet. Der Iran ist vor allem an der Instabilität der Türkei interessiert.
KATAPULT: Immer häufiger werden in der deutschen Presse Kurden zitiert9, die anprangern, dass sie wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Sind diese Anschuldigungen begründet und würden Sie sagen, dass die türkische Regierung häufig nicht zwischen PKK-Kämpfern und “normalen” kurdischen Bürgern unterscheidet?
Seyder: Weder die PKK noch die HDP haben eine praktikable Lösung des Kurdenkonflikts in der Türkei vorgelegt. Der Idealfall für die PKK wäre eine Umstrukturierung der Türkei. Sie wünscht sich eine Kantonisierung der Türkischen Republik und den Abbau der zentralen Institutionen.
Politische, soziale, kulturelle und ökonomische Entscheidungen sollen auf kommunaler Ebene realisiert werden. Es ist anzunehmen, dass die Mehrheit der türkischen Bürger die postmodernen Utopien der PKK nicht annehmen will.
Das utopische Denken Öcalans hat weder in der Gegenwart noch in der Zukunft eine Chance, realisiert zu werden. Wie aber sind diese libertären Vorstellungen mit der Gewaltanwendung durch die PKK zu vereinbaren? Öcalan machte in einigen seinen Schriften deutlich, dass die PKK wehrhaft bleiben sollte, solange ihre Vorstellungen nicht umgesetzt sind.
KATAPULT: Die EU hat bisher nicht in diesen Konflikt eingegriffen. Auch seitens der deutschen Regierung wurden noch keinerlei Stellungnahmen veröffentlicht, obwohl es sich um bürgerkriegsähnliche Zustände handelt. Warum halten sich Deutschland und die europäische Gemeinschaft bisher raus?
Seyder: Die AKP-Regierung hat in den letzten fünf Jahren den Umfang der kulturellen Rechte für die Kurden erweitert. Zwar ist die kurdische Sprache weiterhin keine Schulsprache. Sie darf aber im Osten der Türkei verwendet werden. Kurdische Verlage, TV-Sender und eine kurdische Presse sind ein Stück Normalität geworden.
Auch wurden in vielen Universitäten Abteilungen für kurdische Sprache und Kultur etabliert. Die kurdische Region erlebte in den letzten 15 Jahren einen ökonomischen Aufschwung, der durch den neuen sinnlosen Krieg gefährdet scheint.
Dass die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union bislang keine Stellung zu den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen bezogen hat, hat vier Ursachen:
Zum einen wird die Türkei als ein relativ bedeutender Akteur auch für Deutschland und die EU wichtiger. Das Mitwirken der Türkei an der Regionalkrise des Vorderen Orients, die Flüchtlingskrise, der Konflikt mit Russland, das unilateral in Syrien interveniert sowie der Umstand, dass die PKK den Krieg durch Aufkündigung des Waffenstillstandes provoziert hat, spielen bei der Haltung der erwähnten Akteure eine Bedeutung.
Deutschland und die EU wollen sich nicht zu Komplizen der PKK machen. Auch den ausländischen Akteuren ist deutlich geworden, dass die PKK ihre eigene Agenda hat und dass sie in einem Geflecht von regionalen und internationalen Bündnissen steht.
Eine friedliche Beilegung, so scheint es, ist nicht die höchste Priorität der PKK gewesen. Sie wusste, dass sie mit der Tötung von Polizisten und der Aufkündigung des Waffenstillstandes die AKP dazu zwingt, einen Gegenangriff zu starten.
Die “Kollateralschäden” sind allerdings zu groß. Es ist auch für das politische System der Türkei gefährlich, dass die Militärs durch den Krieg erneut mehr Einfluss auf die Politik des Landes gewinnen könnten.
Das Interview führte Sarah Podszuck.
Die PKK wird auch Arbeiterpartei Kurdistans genannt. Vollständiger kurdischer Name: “Partiya Karkerên Kurdistan”. ↩
Vgl. Heper, Metin: The State and Kurds in Turkey: The Question of Assimilation, New York 2007. ↩
Vgl. Öcalan, Abdullah: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, Köln 2010. ↩
Dorfschützersystem, türkisch: koruculuk sistemi. ↩
Die AKP (vollständiger türkischer Name: “Adalet ve Kalkınma Partisi”) ist nach eigener Auslegung eine konservativ-demokratische Partei. Einige Experten meinen jedoch, dass die AKP eine noch stärkere Islamisierung der Türkei anstrebt. ↩
Tahir Elci war ein kurdischer Rechtsanwalt, der am 28. November 2015 ermordet wurde. Vor seinem Tod zog er die Kritik der türkischen Regierung auf sich, da er es ablehnte die PKK als terroristische Vereinigung zu bezeichnen. ↩
Die HDP (vollständiger türkischer Name: “Halkların Demokratik Partisi”) ist eine Partei, die Minderheitenrechte beführwortet. In erster Linie verfolgt sie das Ziel die Rechte der kurdischen Minderheit zu stärken. ↩
Unter „Salami-Taktik“ versteht man das Verfolgen eines größeren Ziels mithilfe von kleinen Schritten. ↩
Prof. Dr. Ferhad Ibrahim Seyder
Leiter der „Mustafa Barzani Arbeitsstelle für Kurdische Studien“ an der Universität Erfurt
Sarah Podszuck
Diffusionsforschung
Arabischer Frühling.[1]