Arif Rhein, Mitarbeiter von Civaka Azad
Südk#urdistan# hat viele Probleme – und Verantwortungsträger, die sich nicht um deren Lösung bemühen. In den letzten Monaten des Jahres 2020 waren insbesondere Mitglieder des südkurdischen Barzanî-Clans damit beschäftigt, die gesellschaftliche Agenda massiv zu verzerren. Während die Menschen in Behdînan, Silêmanî (Süleymaniye) oder Qendîl viele drängende Probleme plagen, betreiben Mesûd (PDK1-Vorsitzender), Mesrûr (Ministerpräsident2) und Nêçîrvan (Präsident3) Barzanî Kriegspropaganda und lassen sich praktisch täglich zu Fototerminen mit internationalen Staatsvertretern einladen. Als aufmerksameR BeobachterIn fragt man sich schnell, ob die Barzanîs und die von ihnen dominierte Partei PDK wirklich über den Willen verfügen, die konkreten Probleme der Gesellschaft anzuerkennen und zu lösen. Dabei zeigen die täglichen Proteste verschiedenster Bevölkerungsgruppen und Aufrufe zahlreicher Parteien, was es zu tun gäbe.
Ein Land wird besetzt
Mehr als 50 Prozent des südkurdischen Territoriums sind aktuell besetzt. Im Jahr 2017 vertrieben die irakische Armee und vom Iran gelenkte schiitische Milizen die Peschmerga der PDK und YNK4 aus Kerkûk (Kirkuk) und vielen weiteren Gebieten im Süden und Südwesten der Autonomen Region Kurdistan. International wurde damals umfassend darüber berichtet. Deutlich weniger Beachtung findet die Besatzung entlang der nördlichen Grenze zur Türkei, die im Verlauf des Jahres 2020 durch die türkische Armee und ihre aus islamistischen Paramilitärs bestehenden Verbündeten stark ausgeweitet wurde. In den Regionen Xakurke, Heftanîn, Gare, Bradost und Barzan haben die Besatzerkräfte dutzende Hügel besetzt, Checkpoints errichtet und Dörfer entvölkert. Gemeinsam mit der verbliebenen Dorfbevölkerung leistet die HPG5-Guerilla gegen die Besatzung all dieser Gebiete entschlossen Widerstand. Eine verständliche Reaktion, sind die verheerenden Folgen türkischer Besatzungsoperationen nicht nur in #Südkurdistan# selbst, sondern auch in Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê bekannt. Die PDK und ihre prominentesten Gesichter Mesûd, Mesrûr und Nêçîrvan Barzanî verfolgen jedoch eine andere Agenda. Sie beschuldigen zum einen die PKK für die türkischen Angriffe verantwortlich zu sein und den politischen Status Südkurdistans zerstören zu wollen. Zum anderen schicken sie tausende Mitglieder ihrer privaten Milizen zur Unterstützung der türkischen Armee in die bergigen Regionen entlang der nördlichen Grenze, um die PKK-Guerilla von dort zu vertreiben. Medial erwecken insbesondere die PDK-nahen Medien Rudaw, Kurdistan 24 und BaşNews den Eindruck, das zentrale Thema sei die Präsenz der PKK in Südkurdistan und deren notwendige Verdrängung nach Nordkurdistan. Dabei soll vergessen gemacht werden, worum es aktuell eigentlich geht: die massiven Probleme Südkurdistans, sich gegen die vielfältigen Interventionen internationaler und regionaler Mächte zu verteidigen. Eine NATO-Basis in Hewlêr (Erbil), über 40 türkische Militär- und Geheimdienststationen in den Bergen und irakische Soldaten in Kerkûk zeigen, wie es um die Sicherheit Südkurdistans bestellt ist. Wenn Washington, Ankara oder Bagdad wollen, können sie Hewlêr sicherheitspolitisch ohne großen Aufwand massiv unter Druck setzen. Den ca. 200.000 Mitglieder umfassenden Peschmerga-Kräften fehlt es nicht an modernster Technik und Ausbildung, doch verfügen sie aufgrund ihres geringen Vertrauens in die politische Führung über wenig Kampfmoral. Die HPG-Guerilla dagegen führt mit vergleichbar bescheidenen Mitteln, aber einer umso größeren Kreativität, Entschlossenheit und Motivation täglich Krieg gegen die türkisch-islamistischen Besatzungstruppen in Südkurdistan. Welch riesige Kraft entsteht, wenn Peschmerga und HPG sich koordinieren und gemeinsam kämpfen, wurde während des Widerstandes gegen den »Islamischen Staat« (IS) ab 2014 sichtbar.
Ein Land wird verkauft
Südkurdistan ist eigentlich reich an allem. Fruchtbarer Boden, genügend Wasser und riesige Erdöl- bzw. Gasvorkommen bieten zusammen mit der strategischen Lage für Handel eine mehr als ausreichende Grundlage, um die Bevölkerung zu versorgen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Seit Monaten werden Gehälter nicht ausgezahlt – das ist im Lauf der vergangenen Jahre nicht das erste Mal. Im November blockierten Peschmerga-Einheiten mehrmals Straßen in der Region, um gegen das Ausbleiben ihrer Besoldung zu protestieren. LehrerInnen treten aus demselben Grund regelmäßig in den Streik. Noch in den 90er Jahren war die Situation eine andere: Die Bevölkerung betrieb noch viel Landwirtschaft und Viehzucht und konnte sich dementsprechend besser selbst versorgen. Zugleich hatte Saddam Hussein als Reaktion auf die internationale Blockadepolitik gegen den Irak zahlreiche Großbetriebe aufgebaut. Dazu gehörten in der Region um Silêmanî u. a. eine Zementfabrik, eine Zigarettenfabrik, eine Zuckerfabrik, Textilfabriken und ein riesiger Weizensilo. In Hewlêr wurden eine riesige Fabrik für Tomatenmark, eine Teppichfabrik und zahlreiche riesige Hühnerfarmen errichtet. In den Gebieten Şarezûr, Pêncwîn, Derbendîxan, Bazyan, Dukkan und Ranye wurde damals genug Reis für ganz Südkurdistan und den Irak angebaut. Insbesondere seit dem amerikanischen Einmarsch 2003 hat eine Kombination aus Privatisierung, schwarzen Ölexporten in die Türkei und der Verbeamtung eines Viertels der Bevölkerung zu einem massiven Produktivitätsrückgang in der südkurdischen Wirtschaft geführt. Doch statt langfristige Pläne für die wirtschaftliche Stärkung der Region zu entwerfen, ist die PDK-Führung intensiv damit beschäftigt, weiterhin möglichst viel Geld von außen zur Verfügung gestellt zu bekommen und einen Großteil davon auf Privatkonten bei ausländischen Banken anzulegen. Dieses Mantra der Notwendigkeit ausländischer Investitionen wiederholten PDK-Vertreter auf einer Online-Konferenz zur wirtschaftlichen Lage im November vergangenen Jahres immer wieder. Im selben Monat eskalierte ein Konflikt mit Bagdad um die Aufteilung des nationalen Budgets. Weil insbesondere die PDK seit Jahren ohne Absprachen mit Bagdad schwarz Öl an die Türkei verkauft, hatte die irakische Zentralregierung zum wiederholten Male die Gehaltszahlungen an Südkurdistan eingestellt. Ein weiteres Problem ist die Abwanderung der Bevölkerung Richtung Stadt, wodurch das landwirtschaftliche Potential der Region zunehmend ungenutzt bleibt und die mit der Urbanisierung verbundenen Umweltprobleme immer größer werden.
Die südkurdische Wirtschaftsleistung basiert heute sehr überwiegend auf dem Verkauf von Öl und Gas. Hinzu kommen großzügige Zahlungen internationaler Mächte. So zahlt die USA monatlich allein 20 Millionen Dollar für die Löhne der Peschmerga. Sowohl der Gewinn aus den Ölverkäufen, als auch internationale Zuwendungen landen nicht selten auf schwer nachzuvollziehenden Wegen in den Taschen einflussreicher Politiker des Barzanî-Clans. Mitglieder der Barzanî-Familie besitzen nachweislich hunderte Firmen, Konten und Fabriken in der Türkei, aber auch im europäischen Ausland und in Nordamerika.
Ein nationaler Lösungsvorschlag
Die Hauptursache für die Probleme Südkurdistans ist die Tatsache, dass Kurdistan noch immer eine internationale Kolonie ist. Entsprechend muss die Lösung der Probleme eines Teils Kurdistans ganzheitlich, also auf nationaler Ebene gesucht werden. Die Bemühungen um die Schaffung der nationalen Einheit aller Kurdinnen und Kurden dauern seit Jahrzehnten an. Konkrete Schritte gehen bis in das Jahr 1983 zurück, als die PKK und PDK ein gemeinsames Abkommen unterzeichneten, um die Beziehungen zueinander politisch langfristig zu gestalten. Ab Anfang der 90er Jahre wurden weitere wichtige Schritte in Richtung eines Kurdischen Nationalkongresses unternommen, die jedoch immer wieder von der Türkei und internationalen Mächten behindert wurden. Basierend auf diesen Erfahrungen machte Abdullah Öcalan im Jahr 2010 im fünften Band seiner Verteidigungsschriften Die kurdische Frage und die demokratische Nation konkrete Vorschläge, welchen Aufgaben sich ein zu gründender Nationaler Einheitskongress zuerst widmen solle: »A – Der Demokratische Nationalkongress muss sich als langfristig ausgerichtete Organisation konstituieren. Die Beteiligung geeigneter nationaler und demokratischer Persönlichkeiten und Organisationen aus allen Klassen und Schichten muss gewährleistet werden. Dabei müssen die Bevölkerungszahl, die Rolle des jeweiligen Teils Kurdistans und die vorhandene Kampfentschlossenheit berücksichtigt werden. B – Der Kongress muss ein ständiges Leitungsgremium wählen. Dieses Leitungsgremium muss für die praktisch-politische Gestaltung aller Beziehungen der Kurdinnen und Kurden verantwortlich sein. Innere und äußere diplomatische Arbeiten, ökonomische, soziale und kulturelle Beziehungen müssen institutionell durch dieses Gremium ausgeführt und gepflegt werden. C – Alle Organisationen müssen ihre jeweiligen Selbstverteidigungskräfte zu einer gemeinsamen Peschmerga-Struktur vereinen. Eine gemeinsame Kommandantur der Volksverteidigungskräfte muss aufgebaut werden. Jede Organisation muss über einen klaren, ihrer Stärke entsprechenden Einfluss auf diese Selbstverteidigungskräfte verfügen. D – Ein Büro oder Komitee für Außenbeziehungen muss die einzige Institution sein, die im Rahmen der Beziehungen zu Staaten und zivilgesellschaftlichen Kräften insbesondere für die Kontakte zu den Nationalstaaten verantwortlich ist, in denen die Kurdinnen und Kurden leben.«6 Der Vorschlag Abdullah Öcalans, einen Nationalen Einheitskongress aufzubauen, bietet die Grundlage dafür, alle zentralen Lebensbereiche der kurdischen Gesellschaft langfristig, flexibel und vor allem selbstbestimmt zu gestalten. Davon würden neben Südkurdistan auch die anderen Teile Kurdistans profitieren. Diese Perspektive Abdullah Öcalans haben sich PKK und KCK7 zur Grundlage für ihre Politik gemacht. Damit lassen sich auch die große Zurückhaltung und die wiederholten Friedensaufrufe erklären, mit denen sich PKK und KCK seit Oktober 2020 immer wieder an die PDK und die Regierung der Autonomen Region Kurdistans gerichtet haben. Es liegt nun also an allen politischen Akteuren Südkurdistans durch den Aufbau eines Nationalen Einheitskongresses die grundlegenden Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, Konflikte miteinander politisch zu lösen und die drängenden Probleme Südkurdistans im Einklang mit den Entwicklungen in den anderen drei Teilen Kurdistans zu lösen.
Fußnoten:
1 - Partiya Demokrata Kurdistanê (Demokratische Partei Kurdistans, auf deutsch auch oft als KDP abgekürzt)
2 - Premierminister der Autonomen Region Kurdistan (kur. Herêma Kurdistan - HR) in Nordirak / Südkurdistan
3 - der HR
4 - Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê (Patriotische Union Kurdistans, auf deutsch auch als PUK abgekürzt)
5 - Hêzên Parastina Gel (Volksverteidigungskräfte)
6 - Das türkische Original des Zitats findet sich auf S. 501‒502.
7 - Koma Civakên Kurdistan (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans).[1]