$Rojava-Kurdistan. Ein Staat, den es (noch) nicht gibt$
Autor: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Erscheinungsort: Deutschland
Verleger: Universität Heidelberg
Veröffentlichungsdatum: 2018
1. Einleitung
2. Verteilung der kurdischen Bevölkerung auf unterschiedliche Nationalstaaten
a) In der Türkei
b) Im Iran
c) Im Irak
d) In Syrien
e) In der Diaspora
3. Die Kurden in Syrien vor dem syrischen Bürgerkrieg
4. Die Rolle der Kurden im syrischen Bürgerkrieg ab 2011
a) Die Errichtung des de facto Staates Rojava in Nordsyrien
b) Der Kampf der Kurden gegen den Islamischen Staat
c) Der Kampf der türkischen Regierung gegen die YPG in Nordsyrien und weitere aktuelle Entwicklungen
5. Zukunftsperspektiven für die kurdische Bevölkerung in Syrien
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildung 1: Übersichtskarte über die Verteilung der kurdischen Bevölkerung
Abbildung 2: Bevölkerungsgruppen in Syrien und im Libanon
Abbildung 3: Überblick über die kurdischen Migrationsbewegungen
Abbildung 4: Überblickskarte über das Arabisierungsprojekt 1973
Abbildung 5: Grenzen des de-facto Staates Rojava-Kurdistan im Februar 2014
Abbildung 6: Ausgangslage zur Schlacht um Kobanê Mitte September 2014
Abbildung 7: Lage des Hügels Mashtanour, von dem aus die Kämpfer des IS Kobanê unter Beschuss nahmen.
Abbildung 8: Grenzen des de-facto Staates Rojava-Kurdistan im Juni 2015
Abbildung 9: Grenzen des de-facto Staates Rojava-Kurdistan im Oktober 2016
Abbildung 10: Territoriale Aufteilung der Kriegsparteien in Syrien (Stand: Dezember 2017)
Abbildung 11: Territoriale Gliederung Nordwestsyriens unmittelbar vor Beginn der Operation Olivenzweig
1. Einleitung
Es handelt sich bei den Kurden um eine westasiatische Ethnie, die als autochthone ethnische Volksgruppe in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien vertreten ist. Da es keinen kurdischen Staat gibt, werden die Kurden häufig als Volk ohne eigenen Nationalstaat bezeichnet. Sie sind politisch und in der Ausübung ihrer Kultur in den betroffenen Nationalstaaten regelmäßig eingeschränkt. Somit existiert eine große kurdische Diaspora in angrenzenden Staaten und vor allem in Europa. Es existiert eine eigene kurdische Sprache, die außer im Irak jedoch keine Amtssprache der entsprechenden Nationalstaaten ist. Die kurdische Bevölkerung gehört meistens den sunnitischen Muslimen an. Es gibt allerdings auch geringe Anteile an schiitischen, alawitischen, jesidischen, sonstig christlichen und jüdischen Kurden. (Haarmann, 2004, S. 201ff.)
Während des syrischen Bürgerkrieges kam es im Norden des Landes zur Ausrufung eines de-facto unabhängigen Staates Rojava-Kurdistan. Ziel dieser Arbeit soll es einerseits sein, die Situation der Kurden in den einzelnen Nationalstaaten zu beleuchten und auf die Rolle der Kurden in Syrien vor dem Bürgerkrieg einzugehen. Andererseits soll die Rolle der Kurden im syrischen Bürgerkrieg mit Fokus auf den de-facto Staat Rojava-Kurdistan untersucht werden sowie die Zukunftsperspektiven und -chancen einer kurdischen Autonomie im Norden Syriens diskutiert werden. Diese Diskussion wird auf Basis der politischen Situation in Syrien bis einschließlich Juni 2018 geführt.
2. Verteilung der kurdischen Bevölkerung auf unterschiedliche Nationalstaaten
(Rekacewicz, 2007)
Abbildung 1: Übersichtskarte über die Verteilung der kurdischen Bevölkerung
Gebiete mit mehrheitlich kurdischer Bevölkerung befinden sich im Südosten der Türkei, im Norden Syriens, im Norden des Irak, im Nordwesten und Nordosten des Iran. (vgl. Abbildung 1)
a) In der Türkei
Mit ca. 19 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen die Kurden in der Türkei die größte ethnische Minderheit dar. (Central Intelligence Agency, 2018) Die türkische Regierung betreibt eine Art Assimilierungspolitik zwischen Türken und Kurden und leugnet somit ethnische und kulturelle Unterschiede zwischen kurdischen und türkischen Volksgruppen, um die Türkei als vereinte Nation darzustellen. (Conermann & Haig, 2004) Nach Art. 42, Abs. 9 der türkischen Verfassung ist kurdischsprachiger Unterricht an staatlichen Schulen verboten. (Rumpf, 2018) Damit nimmt der türkische Staat in Kauf, gegen den Vertrag von Lausanne zu verstoßen, der es verbietet, den Gebrauch einer Muttersprache einzuschränken. Bis 1991 waren kurdischsprachige Medien komplett verboten. Seit Anfang der 2000er Jahre lenkt der türkische Staat insofern ein, als dass er kurdischsprachigen Unterricht an Privatschulen und die kurdische Sprache in Medien erlaubt. Es existiert in der Türkei eine legale politische Partei, die kurdische Interessen unterstützt. Es handelt sich dabei um die Halkların Demokratik Partisi (HDP). Neuerdings ist die HDP allerdings zunehmend politischen Repressalien ausgesetzt, so befindet sich der Vorsitzende der Partei, Selahattin Demirtaş, seit November 2016 in Untersuchungshaft. Neben der HDP gibt es in der Türkei noch eine weitere kurdische Partei, die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK), welche als militante kurdische Untergrundorganisation nicht nur von der Türkei, sondern auch u.a. von der EU oder den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Seit 15. August 1984 findet ein bewaffneter Konflikt zwischen Türkei und PKK auf türkischem Staatsgebiet mit über 40.000 Todesopfer statt. (Seufert & Kubaseck, 2006)
b) Im Iran
Die politische Situation im Iran kann grob in eine Phase unter der Schah-Herrschaft und in eine Phase der Islamischen Republik seit der Islamischen Revolution 1979 unterschieden werden.
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gab es immer wieder Aufstände der kurdischen Bevölkerung gegen die Schah-Herrschaft. Am 22. Januar 1946 kam es schließlich zur Ausrufung einer kurdischen de-facto Republik Mahabad mit eigenem Parlament und Regierung. Nach erfolglosen Verhandlungen zwischen der iranischen Regierung und den Kurden folgte eine iranische Invasion in die Republik Mahabad, welche die Zerschlagung ebendieser zur Folge hatte. Am 30. März 1947 wurden schließlich sämtlicher Minister der ehemaligen Republik Mahabad bis auf einen einzigen hingerichtet. Bis zur Islamischen Revolution 1979 kann eine stetige Unterdrückung der Kurden durch die Pahlavi-Schahs beobachtet werden. Allerdings kam es aufgrund der massiven Unterdrückung der kurdischen Autonomiebewegung im Iran zu keinen weiteren Aufständen. Es kann von einer Art Friedhofsruhe zwischen dem Schah und der kurdischen Bevölkerung im Iran gesprochen werden. (Siegelberg, 1991)
Die repressive Politik des Schahs führte schließlich dazu, dass die iranischen Kurden die Islamische Revolution 1979 unterstützten. Sie erhofften sich in der Islamischen Republik unter Ruhollah Chomeini eine bessere Situation bis hin zu einer kurdischen Autonomie in der Islamischen Republik Iran. Jedoch gibt es bis heute keine Zusicherung von kurdischer Autonomie innerhalb des Iran. Im Juli 2005 kam es zu einer kurdischen Revolte gegen die iranische Regierung, die durch die Tötung des Kurden Schuaneh Ghaderi in der Stadt Mahabad ausgelöst wurde und 20 Todesopfer zur Folge hatte. (Hoffmann, 2009)
c) Im Irak
Unter der Herrschaft der Baath-Partei im Irak waren die Rechte der Kurden sehr eingeschränkt. Es gab zwar zwischen 1970 und 1974 eine begrenzte kurdische Autonomie im Irak, 1988 zeigte der Giftgasangriff auf Halabdscha jedoch die angespannte und repressive Politik der irakischen Regierung gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Dies führte dazu, dass die Kurden im 3. Golfkrieg 2003 die USA beim Sturz Saddam Husseins und bei der Eroberung nordirakischer Städte unterstützten. Seitdem ist eine enge Kooperation zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den irakischen Kurden zu beobachten. Ein weiterer Konflikt besteht zwischen den irakischen Kurden und der Türkei, die eine Zusammenarbeit der irakischen Kurden mit der türkischen PKK unterstellt. So kam es immer wieder zu Militäroffensiven der türkischen Armee im Nordirak. Der letzte größere Militäreinsatz der türkischen Armee fand im Februar 2008 statt. Allgemein ist festzustellen, dass die kurdischen Autonomiebestrebungen im Irak zu Konflikten mit der Türkei führen, da die Türkei eine ähnliche Entwicklung auf ihrem Staatsgebiet befürchtet. Seit dem Sturz Saddam Husseins im 3. Golfkrieg 2003 gewährt die irakische Verfassung den Kurden im Nordirak umfangreiche Selbstbestimmungsrechte, welche zur Gründung der Autonomen Region Kurdistan in den Gouvernements Sulaimaniyya, Erbil, Dahuk und Halabdscha führte. (Özdemir, 2006)
Die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan ist Erbil. Die Region hat einen eigenen Präsidenten, momentan Masud Barzani, und mit den Peschmerga eigene kurdische Streitkräfte. Es gibt Randregionen der Autonomen Region Kurdistan, die zwischen den Kurden und der irakischen Zentralregierung umstritten sind. Dazu gehört u.a. die Stadt Kirkuk, die lange unter kurdischer Kontrolle war, nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 jedoch wieder unter irakische Kontrolle fiel. Die kurdischen Peschmerga-Kämpfer spielten seit 2014 eine wichtige Rolle im Kampf gegen dem Islamischen Staat im Irak. Seit des kurdischen Unabhängigkeitsreferendums 2017 kommt es vermehrt zu Spannungen zwischen der irakischen Zentralregierung und der Autonomen Region Kurdistan, so erklärte das oberste Gericht im Irak das Referendum für verfassungswidrig. Auch die Spannungen mit den Nachbarstaaten Iran und Türkei nahmen in der Folge des Unabhängigkeitsreferendums zu, was zur zeitweisen Schließung der Landesgrenzen zwischen der Autonomen Region Kurdistan und der Türkei bzw. dem Iran führte. Trotz des positiven Ausgangs des Referendums wurde bis jetzt – vermutlich u.a. aufgrund internationalen Drucks – keine kurdische Unabhängigkeit im Nordirak ausgerufen. (Dolmari, 2018)
Die Autonome Region Kurdistan könnte ein Vorbild für eine kurdische Autonomie in Nordsyrien sein.
d) In Syrien
(Balanche, 2015)
Abbildung 2: Bevölkerungsgruppen in Syrien und im Libanon
Die kurdische Bevölkerung ist in Syrien mehrheitlich im Norden und Nordosten des Landes entlang der türkischen Grenze und entlang des nördlichen Teils der irakischen Grenze beheimatet. In den anderen Landesteilen sind andere Volksgruppen dominant. (vgl. Abbildung 2) Auf die Situation der Kurden in Syrien wird ausführlich in den Kapiteln 3, 4 und 5 eingegangen.
e) In der Diaspora
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Atlas der Globalisierung, 2007)
Abbildung 3: Überblick über die kurdischen Migrationsbewegungen
Aufgrund der Repressalien, die Kurden größtenteils in ihrer Kernregion erfahren, gibt es eine große kurdische Diaspora. Frühere Vertreibungen und Deportationen brachten die kurdischen Emigranten größtenteils in Gebiete, die der kurdischen Kernregion relativ nahe liegen. So gibt es im Libanon, in den kaukasischen Staaten Georgien und Armenien, in einigen zentralasiatischen Staaten, aber auch im Jemen, in Somalia und Eritrea einen geringen Anteil an kurdischer Bevölkerung. Heutzutage emigrieren die Kurden jedoch größtenteils nach Europa und in geringerem Maße in die USA und nach Kanada. In Europa ist das wichtigste Zielland für die kurdische Emigration Deutschland. (vgl. Abbildung 3)
Im deutschsprachigen Raum gibt es mehr als eine Million Kurden, davon lebt die überwiegende Mehrzahl in Deutschland. Die Schätzung über die Anzahl der Kurden in Deutschland ist schwierig, da es keine kurdische Staatsbürgerschaft gibt und es somit häufig schwer festzustellen ist, ob es sich bei einem Immigranten beispielsweise aus der Türkei wirklich um einen Kurden oder um einen Menschen eines anderen Volksstammes mit türkischer Staatsbürgerschaft handelt. Für Immigranten aus anderen Nationalstaaten gilt das gleiche Problem. Bis 1973 wurden zahlreiche Gastarbeiter von der deutschen Regierung unterstützt angeworben, nach Deutschland zu immigrieren. In diesem Zeitraum kamen vermehrt auch kurdische Arbeitsmigranten, vorwiegend Männer, nach Deutschland. 1973 wurde von deutscher Seite ein Anwerbestopp für Gastarbeiter durchgesetzt und es kamen deutlich weniger Arbeitsmigranten nach Deutschland. Ab 1973 ist die kurdische Immigration nach Deutschland politischen Krisen in der kurdischen Kernregion geschuldet. Beispiele für Auslöser vermehrter kurdischer Migrationsbewegungen nach Europa und Deutschland sind der Militärputsch 1980 in der Türkei, der Türkei-PKK-Konflikt oder der Giftgasangriff 1988 auf Halabdscha im Irak.
Die kurdische Bevölkerung ist in der Kurdischen Gemeinde in Deutschland e.V. (KGD) als Dachverband der Kurden in Deutschland organisiert. Es gibt zahlreiche und immer wiederkehrende gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken auch auf deutschem Gebiet. (Cacan, 2016)
3. Die Kurden in Syrien vor dem syrischen Bürgerkrieg
Bis 1918 erstreckte sich das Osmanische Reich u.a. auf dem Gebiet des heutigen Syriens. 1918 wurde das Osmanische Reich aufgelöst und von 1922 bis 1946 war Syrien zusammen mit dem Libanon ein französisches Völkerbundmandat (Mandat français sur la Syrie et le Liban). Im Jahre 1946 erreichte Syrien schließlich seine Unabhängigkeit. (Baron, 2014)
Im Jahre 1957, ca. 11 Jahre nach der Unabhängigkeit Syriens, wurde die erste kurdische Partei in Syrien gegründet. Es handelt sich dabei um die Demokratische Partei Kurdistan-Syrien (DPKS). Ziele der DPKS waren u.a. die Förderung der kurdischen kulturellen Rechte, der wirtschaftliche Fortschritt in Syrien und ein demokratischer Wandel. Die DPKS wurde vom syrischen Staat nie offiziell anerkannt, weshalb die DPKS eine Untergrundorganisation in Syrien blieb. Zahlreiche Mitglieder der DPKS wurden wegen Separatismus angeklagt und eingesperrt. Später zerfiel die DPKS erst in zwei Flügel, zersplitterte dann immer mehr und spielt in der heutigen politischen Landschaft Syriens quasi keine Rolle mehr. (Strohmeier & Yalçın-Heckmann, 2003)
1962 beschloss die syrische Regierung per Dekret, eine Volkszählung in der Provinz al-Hasaka durchzuführen. Aus dieser Volkszählung resultierte, dass 120.000 Kurden (20 % der syrischen Kurden) zu Ausländern erklärt wurden. Medienkampagnen wie „Rettet das Arabertum in der Dschazira!“ oder „Bekämpft die kurdische Bedrohung!“ begleiteten die Volkszählung. (KurdWatch, 2010)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Kara, 2016)
Abbildung 4: Überblickskarte über das Arabisierungsprojekt 1973
1965 plante die syrische Regierung, beduinische Araber entlang der syrisch-türkischen Grenze von der irakischen Grenze im Osten bis Ras-al-Ain im Westen anzusiedeln. Die kurdischen Ortsnamen wurden arabisiert und es war geplant, 140.000 Kurden in die Wüste zu deportieren und kurdische Bauern zu enteignen. (Liebscher, 2013)
1986 wurde die Feier zum kurdischen Neujahresfest Nouruz im kurdischen Viertel von Damaskus durch syrische Sicherheitskräfte beschossen. Dabei kam es zu einem Todesopfer. In der Folge fanden weitere Unruhen in den Kurdengebieten in Nordsyrien statt. Dabei muss aber angemerkt werden, dass die syrische Regierung bei der Niederschlagung der kurdischen Proteste auch von kurdischen Spezialeinheiten unterstützt wurden. Teile der kurdischen Bevölkerung kämpften dabei also gegen ihren eigenen Volksstamm. Auch das Massaker von Hama im Jahre 1982, welches sich gegen die sunnitische Muslimbrüderschaft richtete, wurde durch kurdische Spezialeinheiten unterstützt. (Wanlî, 1988)[1]