Nicht die Palästinenser sind das von der Weltgemeinschaft unfair behandelte Volk, sondern die Kurden
von Jacques Abramowicz
Letzte Woche haben Spanien, Irland und Norwegen den Staat Palästina offiziell anerkannt. Slowenien ist demnächst an der Reihe. Dabei sind nicht die Palästinenser das im Stich gelassene Volk, sondern die Kurden.
Warum? Viele kennen die Balfour-Erklärung von 1917 und die Konferenz von San Remo 1920. Sie legten die Grundlage dafür, dass viele Jahre später der Staat Israel entstehen konnte.
Über den Vertrag von Sèvres, der ebenfalls 1920 zwischen »alliierten und assoziierten Mächten« einerseits und dem Osmanischen Reich andererseits abgeschlossen wurde, wissen hingegen viel weniger Menschen Bescheid. Der letzte der sogenannten Paris-Vorortverträge (eine Serie von Abkommen zur Regelung der internationalen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg) behandelte auch die Frage eines eigenen kurdischen Staates.
Im Artikel 62 des Vertragswerks heißt es, dass die kurdischen Gebiete östlich des Euphrat-Flusses, südlich von Armenien sowie nördlich der türkisch-syrischen Grenze und Mesopotamiens binnen sechs Monaten eine Autonomie erhalten sollen.
Unterzeichnung des Vertrags von Sèvres 1920 durch General Mehmed Hâdî PaschaFoto: IMAGO/GRANGER Historical Picture Archive
Artikel 64 des Sèvres-Vertrags ging sogar weiter. »Wenn innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten dieses Vertrages die kurdischen Völker in den in Artikel 62 definierten Gebieten sich an den Rat des Völkerbundes wenden, um zu zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung dieser Gebiete die Unabhängigkeit von der Türkei wünscht, und wenn der Rat dann der Ansicht ist, dass diese Völker zu einer solchen Unabhängigkeit fähig sind, und empfiehlt, dass sie ihnen gewährt werden sollte, erklärt sich die Türkei hiermit bereit, eine solche Empfehlung auszuführen und auf alle Rechte und Titel über diese Gebiete zu verzichten.«
Weiter heißt es: »Die Einzelheiten dieses Verzichts sollen Gegenstand einer besonderen Vereinbarung zwischen den alliierten Hauptmächten und der Türkei sein. Wenn und sobald der besagte Verzicht erfolgt, werden die alliierten Hauptmächte keinen Einwand gegen den freiwilligen Beitritt der Kurden zu diesem unabhängigen Staat erheben, die den Teil Kurdistans bewohnen, der bisher im Vilayet von Mosul enthalten war.«
Der Vertrag von Sèvres wurde – im Gegensatz zum Versailler Vertrag in Bezug auf das Deutsche Reich – nicht umgesetzt, und das, obwohl sich eine überwältigende Mehrheit der kurdischen Bürger für einen unabhängigen Staat aussprach und 1925 der Aufruf an den Völkerbund erging, über die Zugehörigkeit der osmanischen Provinz Mosul (heute der kurdische Teil des Iraks) zu befinden. Das Gebiet stand damals ebenso wie Palästina unter britischer Mandatsverwaltung.
Doch den Briten gelang es, mit dem Argument, der neu gegründete Staat Irak sei ohne das Öl und die landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus Kurdistan nicht überlebensfähig, den Völkerbund davon zu überzeugen, die Kurden-Provinz dem Irak zuzusprechen. Frankreich und die USA erhielten im Gegenzug jeweils 23,75% der Anteile an der Ölförderungsfirma in Kirkuk und wurden so für ihre - ungerechte - Entscheidung zuungunsten der Kurden entschädigt. (So entstand übrigens die Vorgängerfirma des heutigen Ölriesen Total.)
Acht Jahrzehnte später wurde im Artikel 140 der irakischen Verfassung, die 2005 nach dem Sturz des Dikators Saddam Hussein per Referendum von 80 Prozent der Wähler gutgeheißen wurde, festgeschrieben, dass die Regierung in Bagdad in den Kurdengebieten ein Referendum organisieren werde, damit die Wähler dort frei über die Angliederung der Region Kurdistan an den Irak abstimmen könnten.
2017 stimmten dann Iraks Kurden bei einem Referendum mit mehr als 90 Prozent für die Unabhängigkeit. Doch der Irak hielt sich erneut nicht an die eigene Verfassung. Die 1991 geschaffene Region Kurdistan bleibt vorerst Teil des Irak. Internationale Anerkennung? Bislang Fehlanzeige.
Und auch seit 1979 den Iran beherrschende islamistische Regime ist (wer hätte es gedacht) strikt gegen ein unabhängiges Kurdistan. Rund 12 Millionen Kurden leben im Iran. Man hat schlicht Angst, dass andere, nicht-persische Völker auf ähnliche Ideen kommen könnten.
Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit
Immer wieder wurden die Kurden schlicht »vergessen« – und das, obwohl sie entscheidenden Anteil daran hatten, die brutalen Schlächter des »Islamischen Staates« zu besiegen.
Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit liegt seit vielen Jahrzehnten auf den Palästinensern. Dabei waren sie es, die wiederholt einen eigenen Staat abgelehnt und stattdessen lieber Israel den Kampf angesagt haben.
Ja, auch die Kurden haben mit Terrorismus hantiert. Die Arbeiterpartei PKK ist ein Beispiel. Aber diesbezüglich könnte man auch die Vorgeschichte der PLO nennen.
In der Balfour-Erklärung von 1917 wurde den Juden das Recht auf einen eigenen Staat in Palästina versprochen, im Mandat des Völkerbundes für Palästina wurden die Gebiete präzisiert. Die San Remo-Konferenz etablierte als Ziel die Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina.
Dieses Versprechen wurde Ende der 40er Jahre eingelöst. Auch den Palästinensern sprach die UN-Vollversammlung einen eigenen Staat zu. Sie lehnten ab, erklärten Israel mehrfach den Krieg. Jordanien bemächtigte sich des Westjordanlands und Ost-Jerusalems, annektierte es zeitweise sogar. Das war eine illegale Besatzung, die aber niemanden im Westen interessierte. Genauso wenig, wie der den Kurden 1920 versprochene eigene Staat bislang Realität geworden ist.
Die UN wurde 1945 nach dem zweiten Weltkrieg etabliert. Ihre Charta enthält eine sehr wichtige Klausel sowohl für Israel als auch für Kurdistan, die gerne vergessen wird. Artikel 80 gewährleistet, dass die Rechte der Völker im Rahmen der Mandate des Völkerbundes (der Vorläuferorganisation der UN) gültig bleiben.
Damit haben sowohl Israel als auch Kurdistan ein von den Vereinten Nationen verbrieftes Existenzrecht. Gleichzeitig werden beide von derselben Organisation heute im Stich gelassen. Es wäre an der Zeit, dass die UN-Beamten mal wieder die eigene Geschichte und die eigene Charta genauer anschauten.[1]