In unserer Reihe „Jung, Jesidisch, Erfolgreich“ stellt die Stelle für Jesidische Angelegenheiten junge JesidInnen vor, die in Deutschland und Europa nicht nur eine neue Heimat gefunden haben, sondern mit besonders gutem Beispiel in unserer Gesellschaft vorangehen und uns zeigen, wie Integration und das Erfüllen individueller Träume Hand in Hand gehen.
Ein einziger Ausschnitt aus dem autobiographischen Buch des 18-jährigen Jesiden Farhad Alsilo sagt mehr aus über ihn und sein Buch „Der Tag, an dem meine Kindheit endete“ als jedes noch so gute Interview: „Meine Mutter hatte ein Bein und einige andere Körperteile gefunden. Da sie glaubte, es seien Körperteile meines Bruders, hatte sie sie in eine Decke gepackt und mit nach Hause genommen. Jetzt verstand ich erst den Grund für das Weinen und Wehklagen.“
Diese grausame Erfahrung machte Farhad mit fünf Jahren. Damals hatte die Terrororganisation Al-Qaida im Irak zur Auslöschung der Jesiden und des Jesidentums aufgerufen und im August 2007 den verheerendsten Anschlag seit den Angriffen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 verübt. 796 Jesiden wurden dabei getötet. Einer von ihnen war Ibrahim Alsilo, der 18-jährige Bruder des jungen Schriftstellers. Den Völkermord vom 03. August 2014 wird Farhad später auch noch hautnah miterleben und ihm in ewiger Erinnerung bleiben.
Wer aber denkt, Farhad müsste ein trauriger oder gar gebrochener junger Mann sein, der irrt sich gewaltig. Man muss ihm selbst begegnen, um seine Unbeugsamkeit, seinen Kampfgeist und seine Zuversicht in eine bessere Zukunft zu sehen und zu spüren. Der Stelle für Jesidische Angelegenheiten erzählt er von seinen Erinnerungen, die man auch seinem ärgsten Feind nicht zu wünschen vermag. Er erzählt davon, was ihm und seiner Familie – und sinnbildlich allen Jesiden – widerfahren ist. Und das nicht unter Tränen, wie man es vermuten würde – vielmehr bei Kaffee, Kuchen und oft einem Lächeln auf den Lippen – ganz so, als würde er dem Islamischen Staat den Stinkefinger zeigen!
Das Interview wurde geführt von Gohdar Alkaidy.
Zum Interview-Treffpunkt machen wir den Stuttgarter Schlossplatz aus. Farhad erscheint pünktlich auf die Minute, ist höflich, offen. Auf die Frage, ob er lieber Kurmanci oder Deutsch reden will, sagt er mit einem Lächeln „auf Deutsch, bitte. Deutsch ist besser.“ Welcher Interviewer stellt einem deutschsprachigen Autor auch solch eine Frage!? Gesagt, getan.
Bei Kaffee und Kuchen legt Farhad los. Er erzählt vom Leben seiner Familie im Irak. „Wir hatten ein gutes, schönes Leben“, sagt er. Dabei geht er nochmal sieben Jahre vor den Einfall des IS in Shingal zurück. „Wir hatten drei sehr gut laufende Läden in Siba Scheich Khidir. Unter ihnen auch ein Juweliergeschäft.“ Das war 2007. Dieses Jahr war ein Schicksalsjahr für das jesidische Volk. Al-Qaida, genannt Al-Qaida im Irak und der Ursprung der Terrororganisation Islamischer Staat, tötete mit einem koordinierten Anschlag mit vier mit Sprengstoff beladenen Fahrzeugen 796 unschuldige Menschen. Tausende Kinder wurden an diesem 14.08.2014 zu Halbwaisen, Hunderte zu Vollwaisen und Tausende Menschen trauerten um ihre Kinder, um ihre Angehörigen.
Hunderte Gebäude, viele davon Lehmbauten, wurden in Schutt und Asche gelegt. Auch die Geschäfte der Familie Alsilo. Danach sollte nichts mehr so sein, wie es einmal gewesen ist. „Es hat Jahre gedauert, bis unsere Familie wieder auf die Beine gekommen ist. Ohne die Hilfe meines getöteten 18-jährigen Bruders war mein Vater nur schwer in der Lage, etwas zu bewegen“, sagt er mit einem ruhigen Ton. Aber Vater Alsilo ist fleißig und gibt nicht auf. Aus dem Nichts baut er ein Bauunternehmen auf. „Zum Glück halfen uns meine Onkels. Und ich stand mit zehn Jahren auch schon hinter der Kasse in unserem Fachgeschäft für Zement.“
Nach harten mageren Jahren und des Schweißes schafft es die Familie Alsilo aus der Misere. „2014 hatten wir schließlich eines der schönsten Häuser. Uns ging es wieder gut“, sagt Farhad und ergänzt: „Aber du weißt ja, was dann kam.“
Das, was 2014 kommt, wird die Familie noch härter und erbarmungsloser treffen als der Anschlag am 14. August 2007:
Der 03. August 2014
„Am 03. August 2014 gegen drei Uhr am Morgen wurden wir von unseren Eltern geweckt. Es ist Krieg, sagten sie uns.“
Statt sich sofort in Sicherheit zu bringen, versuchen sie, Angehörige zu erreichen, die näher am Kriegsgeschehen lebten. Und ohne sie zu fliehen, käme nicht in Frage, so Farhads Vater.
„Also rief mein Vater unsere Onkels und Tanten an, die er aber nicht erreichte. Nach mehreren Versuchen erreichte er aber einen seiner Kollegen. Ich wünschte, das wäre nie passiert“, sagt Farhad betroffen.
Aus unbekanntem Grund sagt dieser Kollege Farhads Vater, dass der IS in Siba Scheich Khidir geschlagen worden ist. „Wir waren natürlich erleichtert.“
Es verstreicht wertvolle Zeit.
Aber dann kommt ein Anruf eines Verwandten: „Er sagte meinem Vater, dass er die Familie in Sicherheit bringen soll. Der IS sei durchgebrochen. Die jesidischen Verteidiger, die mit leichten Waffen stundenlang Widerstand geleistet haben, hätten vergeblich auf versprochene Verstärkung gewartet.“ Die Familie gerät in Panik und beschließt, in das Haus eines Onkels am Fuße des Shingal-Berges zu fliehen. „Wir dachten, von dort aus können wir uns eher ins Gebirge retten, wenn der IS kommt.“
Was nach einer guten Idee klingt, erweist sich als Falle. „Wir waren inzwischen sechs Familien, sechs große Familien, wir hatten aber nur ein kleines Auto“, sagt Farhad.
Und niemand soll zurückgelassen werden. Also wurde das Auto überladen. Auch im offenen Kofferraum finden Kinder Platz. Das Auto fährt mehrmals hin und wieder zurück.
„Bei der letzten Fuhre war ich dabei“, erinnert er sich.
Dann überschlägt sich das Geschehen im Minutentakt. Konvois des IS tauchen plötzlich am Horizont auf. „Sie kamen immer näher und wir waren gerade erst am Haus angelangt. Und sie beschossen uns aus allen Rohren“, erinnert sich der damals Elfjährige. Den Familien bleibt nichts anderes übrig, als im und um das Haus Deckung zu suchen. Zum Berg zu schaffen, ist jetzt unmöglich geworden. „Zumal nur einige wenige von uns Platz im Auto gehabt hätten, und niemand wollte sich ohne die anderen retten.“
Die Terroristen schießen auf das alleinstehende Haus.
„Sie haben förmlich gefeiert, Jesiden an der Flucht gehindert zu haben.“ Etwa 50 Meter vor dem Haus halten sie ihr Konvoi an und kommen zu Fuß zum Haus. „Sie haben auf die Männer eingeschlagen und sie von uns Kindern, Mädchen und Frauen getrennt. Die Männer wurden nach draußen gebracht, wir Kinder – Mädchen und Jungen – in einen Raum und die älteren Frauen in die Küche gesperrt.“
Aus einem Spalt in der Küchenwand sieht Farhad, was mit den Männern passiert: „Sie mussten sich hinhocken. Das waren mein Vater und sieben meiner Onkels und Cousins. Sie wurden vor die Wahl gestellt, den Islam anzunehmen oder zu sterben“, erinnert er sich noch genau an diesen schicksalshaften Tag. „Aber sie lehnten ab und riefen den Namen von Xudê [Gott] und Tawisî Meleks [oberster Engel].“
Dann werden die Männer an die Wand gestellt.
„Sie sollten an Ort und Stelle erschossen werden. Aber ich sah, wie mein Vater eine Handbewegung machte und meine Cousins und Onkesl in alle Richtungen rannten.“
Dann wird es auch für die Terroristen des Islamischen Staates hektisch. Es fallen Schüsse. Jene IS-Leute, die im Haus sind, rennen nach draußen und schießen auf die fliehenden Männer.
„Dann kamen sie mit den Benzinkanistern aus dem Wagen meines Vaters reingestürmt. Sie gingen gezielt zur Küche, wo unsere älteren Frauen eingesperrt waren.“
Diese Benzinkanister gießen sie über die Frauen und verteilen den Brennstoff in der gesamten Küche.
„Wir alle schrien und weinten. Sie wollten sie einfach verbrennen. Einfach so.“
Dann kommt es aber anders. Ein IS-Anführer verbietet das. „Er sagte, »nehmt erst so viele Kinder wie möglich mit, dann kommt ihr wieder und nehmt die anderen.« Sie nahmen viele von uns mit, auch vier meiner Schwestern.“
Zur Überraschung aller stiegen alle IS-Schergen in die Autos und fuhren davon.
„Wir wussten, uns blieb nicht viel Zeit.“
Also suchen Farhad und alle anderen nach ihren Angehörigen. Farhad, sein Bruder und seine Mutter finden den Vater blutüberströmt, aber lebend.
„Er war schwer verletzt. Er konnte sich nicht bewegen und nicht reden.“
Farhads Vater macht eine Handbewegung zu seinem Mund. Seine Mutter schickt unter Tränen einen Sohn zum Wasserholen. „Wir gaben ihm Wasser. Er nahm einen Schluck und wir legten ihn auf eine Decke. Danach rührte er sich nicht mehr.“
Sein Vater stirbt in den Armen seiner Familie. Seine Frau schließt ihm die Augen, spricht ein letztes Gebet und bedeckt ihn.
Farhad erinnert sich, wie bitter er in diesem Moment geweint hat, ihm aber irgendwann die Tränen nicht mehr kamen.
„Von den Männern, die draußen erschossen werden sollten, überlebten zwei. Beide waren meine Cousins. Einer war unversehrt, der andere hatte zwei Schussverletzungen am Bein. Wir konnten ihn nicht tragen und sagten ihm, dass wir Hilfe schicken werden, sobald wir auf dem Berg sind.“
Und das tun sie auch. Mit aller Kraft und viel Glück schaffen sie es an den Berghang: „Als wir da ankamen, wurde Hilfe geschickt. Aber meinen Cousin haben wir nie wiedergesehen. Wahrscheinlich hat ihn der IS erwischt“, vermutet er.
„Am Ende hatte ich Glück“, sagt Farhad Alsilo dankbar. Am 25.06.2015, an seinem Geburtstag, landet Farhad mit seiner Familie in Deutschland. Mit dem humanitären Aufnahmeprogramm des Landes Baden-Württemberg wurde ein Sonderkontingent besonders schutzbedürftiger Frauen und Kinder aufgenommen. Der Größte Teil von ihnen Jesiden.
„Hier traf ich wildfremde Menschen, die mir eine bessere, schönere Welt zeigten. Ich möchte mich bei allen bedanken.“
Dem jungen Mann ist seine tiefe Dankbarkeit deutlich anzumerken, sie strahlt ihm geradezu aus seinem lächelnden Gesicht.
„Diese Menschlichkeit habe ich als Jeside im Irak selten erfahren. Allen voran möchte ich Dr. Michael Blume, der das Aufnahmeprogramm geleitet hat, und Düzen Tekkal, die mir bei meinem Buch sehr geholfen hat, aus ganzem Herzen danken.“
Möchtest du einige Worte Jesiden, allen voran Jugendlichen, auf den Weg geben?
Farhad: „Ja, gerne: wir haben viel Schlimmes in unserer alten Heimat erleben und durchleben müssen. Und das nur aufgrund unseres Glaubens. Dort konnten wir uns nicht entfalten. Weder in unserer Kultur, unseren Traditionen, geschweige denn in der Ausübung unseres Glaubens. Aber hier in Deutschland ist es anders. Man muss diese Chance, die dieses Land uns bietet, mit beiden Händen packen. Nutzt das! Macht mit, bringt Euch ein. Dieses Land macht uns ein Geschenk, das wir dankend annehmen müssen. Aber wir sollten auch diesem Land etwas zurückgeben. Macht Eure Abschlüsse und seid stolz auf dieses Land, das uns so herzlich aufgenommen hat und uns behütet.“
Wir könnten Farhad noch stundenlang zuhören und noch zig Seiten über seine unglaublich starke Persönlichkeit und seine unglaublich grausame Kindheit schreiben. Aber lest aus erster Hand in seinem Buch „Der Tag, an dem meine Kindheit endete“ vom Trabantenverlag.[1]