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Demokratischer Konföderalismus in Rojava

Demokratischer Konföderalismus in Rojava
Autor: MEHMET AKYAZI
Erscheinungsort: Deutschland
Verleger: Universität Duisburg-Essen (Institut für Soziologie)
Veröffentlichungsdatum: 2017
$1. Einleitung$
2. Macht und Herrschaft
2.1. Macht und Herrschaft in der Soziologie
2.2. Kritik von Macht und Herrschaft
2.3. Überwindung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen

3. Demokratischer Konföderalismus in Rojava
3.1. Entwicklungen in Nordsyrien
3.2. Kommunale Basisorganisierung in Rojava
3.3. Perspektiven im Mittleren Osten

4. Fazit

5. Quellen- und Literaturverzeichnis
5.1. Internetquellen
5.2. Literatur

1. Einleitung
Das Wort „Macht“ wird zwar häufig benutzt und offensichtlich hat auch jedermann eine genaue Vorstellung, was damit gemeint ist oder bezeichnet wird, doch bei genauerer Be­trachtung offenbart sich eine unendliche Vieldeutigkeit der mit Macht und auch Herr­schaf­t bezeichneten Phänomene (Imbusch 2013: 9). Als eigenständige Phänomenbereiche, die miteinander verwoben sind, ist ihr semantischer Gehalt bis heute umstritten (Imbusch 2016: 207). Die unterschiedlichen Auffassungen von Macht und Herrschaft sol­len im ers­ten Teil der nachfolgenden Arbeit dargestellt werden. Es geht nicht nur darum, Macht und Herrschaft als Phänomen zu beschreiben. Es sollen auch Theorien vorgestellt werden, die nicht nur annehmen, dass gegen­wärtige Macht- und Herrschaftsverhältnisse überwunden wer­den können, son­dern aus einer kritischen Grundhaltung heraus diesen Prozess auch fordern. Damit wäre die Arbeit an einem Punkt angelangt, den man als Utopie bezeichnen kann. Ein Vordenker eines utopi­schen Modells, dessen Schriften den gegenwärtig inhaf­tierten politischen Führer Abdullah Öcalan inspirier­ten, war der US-amerikanische Theo­retiker und libertäre Sozialist Murray Bookchin. Für Bookchin ist utopisches Denken die visionäre Erkenntnis einer neuen Gesellschaft, die die Zukunft in radikal neuen Formen und Werten vermitteln kann (Bookchin 1981: 153). An­knüpfend an seine Ideen von einem Libertären Kommunalis­mus entwickelte Öcalan als maßgebender Anführer einer kurdisch-autono­men Bewegung, ein neues Gesellschaftsmo­dell für den Mittleren Osten, welches er als Demokratische­n Konföderalismus bezeichnete. Seit 1999 ist er auf der Gefängnisinsel Imrali in der Türkei inhaftiert und trotzdem sind seine Schriften und Weisungen noch im­mer maßgebend für seine Bewegung. Während und auch nach seinem Exil-Aufenthalt in Syrien konnte sich seine Bewegung in den kurdisch bewohnten Siedlungsgebieten Syriens etablieren, das als Rojava (dt.: Land des Sonnenuntergangs) bezeichnet wird. Mit dem Be­ginn des Bür­ger­kriegs in Syrien im Jahr 2011 wurden die Truppen des Regimes aus dem Nor­den abgezogen, sodass die Partei der De­mokratischen Union (PYD) weitgehend die Kon­trolle über die kurdisch bewohnten Ge­biete in Rojava übernehmen konnte. Die PYD re­krutierte sich ursprünglich aus ehemaligen Kadern der von Öcalan mitbegründeten Ar­bei­terpartei Kurdistans (PKK) und steht ideologisch in einem engen Verhältnis zu ihrer Schwesterpartei. Nun wird versucht, die Idee vom Demokratischen Konföderalismus in Rojava umzusetzen, sodass aus dem utopischen Modell Öcalans Realität wird. Im zwei­ten Teil der Arbeit sollen die Grenzen dieses Modelles aufgezeigt werden. Be­sonders der seit 2011 andauernde Bürgerkrieg in Syrien und die bewaffnete Auseinander­setzung verschie­dener Gruppen erschwert den Gestaltungsraum für solch ein basisdemo­kratisches Selbst­verwaltungsprojekt. Die zentrale Frage der Arbeit lautet deshalb: Kann mit dem Demokra­tischen Konföderalismus in Rojava Macht überwunden werden? Grund­legend für diese Frage sind die Theorien der Soziologie, die Macht und Herrschaft begriff­lich zu erfassen versuchen. Von ei­nem kritischen Verständnis von Macht ausgehend, wer­den anschließend alternative Konzepte zur Über­windung von Macht- und Herrschaftsver­hältnissen skizziert. Aufgrund der Aktualität des Themas werden im zweiten Teil der Ar­beit vor allem die Werke und Artikel von Politikwissenschaftlern, aber auch Erfahrungsbe­richte von Men­schen vor Ort herange­zogen. Ab­schließend werden mögliche Per­spektiven für den Demo­kratischen Konföderalismus im Mittleren Osten skizziert, wel­cher als reale Utopie einen wegweisenden Moment für die Zukunft darstellen kann:

„Die Utopie erlöst die Zukunft. Durch sie wird sie für die kommenden Generationen wieder verfügbar, so daß sie sie schöpferisch gestalten und durchgreifend emanzipieren können – nicht auf der Grundlage von versteckten Voraussetzungen, sondern bewußten und kunstvollen Handelns.“ (ebd.: 153)
$2. Macht und Herrschaft$
2.1. Macht und Herrschaft in der Soziologie
Macht und Herrschaft sind zwei Begriffe, denen der Soziologe Peter Imbusch ein hohes Maß an „Charme“ zuspricht. Als unverzichtbare Grundbegriffe stellen Macht und Herr­schaft zentrale Kategorien der Sozialwissenschaften dar (Imbusch 2013: 9). Sie sind aller­dings auch Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontroverse, da die beiden Begriffe sozi­ale Tatsachen beschreiben, die vielfältigen Deutungsmustern zugänglich sind:

„Verweisen die einen auf konstruktive Aspekte der Macht für Verständigung oder soziales Handeln, sehen andere in ihr etwas Böses oder gar Dämonisches; assoziieren die einen mit Macht eher Freiheit, so andere Zwang; ist für die einen Macht eher an gemeinsames Handeln gebunden, so rücken andere sie in die Nähe von Kampf und Konflikt[…]benutzen die einen Herrschaft als einen Oberbegriff zu Macht, so betrachten andere sie lediglich als einen Spezi­alfall derselben und ordnen sie dieser unter; bedeutet Herrschaft für die einen Unterdrückung, so erfüllt sie für andere wichtige Ordnungsfunktionen; glauben die einen, Herrschaft abschaf­fen zu können, so halten andere sie für eine Universalie menschlicher Gesellschaften[…]“ (Imbusch 2016: 207).

Während das Alltagsverständnis von Macht weitgehend negativ assoziiert ist, so ist das wissenschaftliche Verständnis von Macht und auch Herrschaft um einiges differenzierter, da bis heute Uneinigkeit und Streit über das angemessene Verständnis der beiden Begriffe vorherrscht und die Interpretationen einen Teil größerer ideologischer Debatten bil­den (Imbusch 2013: 9). So kommen sogar disparate und widersprüchliche Kennzeichnun­gen von Macht und Herrschaft zustande. Die klassische Definition von Max Weber be­schreibt Macht als eine „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch ge­gen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber 1990: 28). Mit dieser Definition rückt Weber den Begriff der Macht in die Nähe von sozia­len Kämpfen und Konflikten (Imbusch 2016: 208) und zwar in einem antagonistischen Ver­hältnis zu seinem Verständnis von Herrschaft, bei dem sich das Soziale bis zum Auto­ma­tismus stabilisiert (Neuenhaus-Luciano 2013: 98). Weber definiert Herrschaft als eine Chance, Gehorsam für Befehle zu finden und zwar bei einer angebbaren Gruppe von Men­schen, wobei die Herrschaft auf verschiedenen Motiven der Fügsamkeit beruht; Vorausset­zung hierfür ist allerdings „ein bestimmtes Minimum an Gehorchen wollen, also Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen“ (Weber 1990: 122). Für Weber ist Herrschaft ein Sonderfall von Macht und führt zur Uniformierung sozialen Handelns. Die Machtkämpfe werden stillgestellt und deshalb bildet Herrschaft nach diesem Verständnis einen Ge­genpol zur Macht (Neuenhaus-Luciano 2013: 97f.). Herrschaft kann demnach als ein institutionali­siertes Dauerverhältnis der Machtausübung einer übergeordneten Gruppe ge­genüber einer untergeordneten Gruppe zusammengefasst werden (Imbusch 2016: 211). Allerdings wurde die Machttheorie von Weber und insbesondere seine Kombination von dezisionistischer Führung und Herrschaftsmaschine mit Hinblick auf den Nationalsozia­lismus in Deutschland kritisch betrachtet, weswegen sich nach 1945 intensive Auseinan­dersetzungen mit seinen Schriften ergaben, die sich vor allem auf den politischen Gehalt seiner Soziolo­gie konzentrierten. Sein auf den Machtbegriff bezogenes Politikverständnis wurde durch diese Kritik weiterentwickelt und ab Mitte der 1960er Jahre rückte die Ratio­nalitäts­konzeption, der Webers Verständnis einer Macht- und Herrschaftskonstellation zugrun­delag, in den Mittelpunkt der kritischen Diskussionen (Neuenhaus-Luciano 2013: 109f.). Als allgegenwärtige Phänomene menschlicher Gesellschaft bilden Macht und Herr­schaft nicht nur Gegenstand sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzun­gen. Eine Fülle von un­terschiedlichen theoretischen Zugängen und die stetig anwachsende Litera­tur zu dem Thema konnten das „theoretische Chaos“ um den inhaltlichen Gehalt der beiden Be­griffe und den Stellenwert einzelner Denktraditionen und Paradigmen nicht beseitigen (Imbusch 2013: 26ff.). So gibt es neben individualistisch orientierten Theorien oder ratio­nalen Akteursmodellen, die vom Menschen als egoistischen Nutzenmaximierer ausgehen und die Herrschaft als einen Macht- oder Konfliktreglungsmechanismus betrachten, eine Reihe von kritischen und marxistisch orientierten Theorien. In den Gesellschafts- bzw. Sozialthe­orien gilt Herrschaft als allgemeine soziale Regelungs- und Beziehungsform, bei der sich die Vorteile und Nachteile erst in den konkreten Analysen und zwar unterhalb des abstrakten Herr­schaftsbegriffes erweisen müssen (ebd.: 30f.). Ausschlaggebend für die Bewertung von Macht und Herrschaft sind, neben den verschiedenen ideologischen Positi­onen und Men­schenbildern, auch die Einschätzungen aus der Lebenswelt der Individuen (ebd.: 28f.).
$2.2. Kritik von Macht und Herrschaft$
Sobald die Mechanismen oder Strukturen von Herrschaft tatsächlich wahrgenommen wer­den, handelt es sich in den meisten Fällen um Unbehagen gegenüber „zu viel“ oder „fal­scher“ Herrschaft (Maurer 2013: 352). Eine skeptische Bewertung von Macht findet man deshalb überwiegend bei machtschwachen Gruppen, die dazu tendieren, Macht zu hierar­chisieren und auf ihre negativen Effekte hinzuweisen (Imbusch 2016: 213). Zu einem In­strument kritischer Analyse von Herrschaft kann die Soziologie von Weber nicht entwi­ckelt werden, da seine Fixierung auf Macht und Herrschaft jegliche andere Zweckbestim­mung des Staates verwerfen lässt (Neuenhaus-Luciano 2013: 108). Kritisch gegenüber Macht und Herrschaft äußerten sich hingegen die beiden grundlegenden Theoretiker des Kommunismus, Karl Marx und Friedrich Engels. Sie versuchten die Bedingungen von Macht, die Widersprüche von Herrschaftsverhältnissen und die Möglichkeiten von Macht­verschiebungen und des Machtabbaus aufzuzeigen, wobei die Termini von ihnen nicht ex­plizit definiert wurden (Hösler 2013: 56). So ist für Marx und auch für Engels Macht nicht per se verurteilenswert oder reaktionär, da es nach ihrem Verständnis zusam­men mit der Gewalt immer wieder ein notwendiges Mittel in der Geschichte darstellt, um dem histori­schen Fortschritt zum Durchbruch zu verhelfen; trotzdem ist ihre Gesellschafts­kritik ver­bunden mit einer systemtranszendierenden Perspektive, die auf die Beendigung bestehen­der Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse und dem Abbau poltischer Macht über­haupt zielt (ebd. 64). Mit dem Fehlen einer konkreten Definition von Macht und Herrschaft ergibt sich allerdings eine Kluft zwischen der Theorie und der politischen Praxis. Ist im Alltag eine Herrschaft weitgehend etabliert, so ist auch im klassischen soziologischen Ver­ständnis die Endstufe der Institutionalisierung von Macht erreicht (Imbusch 2013: 15). Ein zentraler Staat weist also einen hohen Grad an institutionalisierter Macht auf und des­halb bezeichnet Öcalan den Staat als „Maximalform von Macht“ (Öcalan 2012: 10). Für die systemtranszendierenden Ansätze von Marx und Engels stellt sich daher die Frage, wie sich die politische Macht in einer Herrschaft aufzuheben hat. Die revolutionäre Macht­übernahme im Oktober 1917 in Russland barg für Öcalan von Anfang an einen grundle­genden Widerspruch in sich, der sich für ihn ebenfalls in vielen anderen real­sozialisti­sche­n Versuchen widerspiegelte:

„Jedoch wollen wir nur ganz kurz anmerken, dass die gesamte 150-Jährige Geschichte des So­zialismus auf dem Paradigma des An-Die-Macht-Kommens aufgebaut war. Lenins Beitrag be­stand darin, dieses Paradigma ohne Umschweife anzuwenden und dafür die richtigen Wege und Methoden herauszufinden[…]Eine ihrer grundlegenden Überzeugungen war, dass die Partei unter den Bedingungen des Imperialismus nur bestehen könne, wenn sie die Macht habe. Doch die Geschichte hat gezeigt, dass diese Auffassung unzutreffend war – wenn auch erst nach siebzig Jahren. Diese Tatsache beweist nicht, dass alles am Marxismus und am Leni­nismus falsch war. Es zeigt lediglich, dass die Thesen über die Macht der Partei falsch waren und der Sozialismus so nicht erreicht werden kann. Die Position von Marx und Engels zu Macht und Staat lässt sich nicht exakt feststellen, da sie sich mehr aufs Theoretikerdasein be­schränkten. Aber sie sprachen von der Notwendigkeit, für eine Übergangszeit den Staat als Herrschaftsinstrument gegen die Bourgeoisie einzusetzen“ (Öcalan 2015: 440).

Für Öcalan stellen Macht und Staat einen Gegenpol zur Demokratie dar. Er strebt eine vollkommene Demokratie an, was für ihn die Auflösung des Staates und die Überwindung von Macht bedeutet:

„Jede Macht braucht einen Staat, jeder Staat aber die Negierung von Demokratie. Eine Klas­sendemokratie ist in der Essenz keine Demokratie, sondern Staatsmacht.[…]Als goldene Re­gel sollte gelten: Je mehr Staat, desto weniger Demokratie. Oder auch: Je mehr Demokratie, desto weniger Staat“ (Öcalan 2015: 178).

Ein völlig entgegengesetztes Verständnis von Macht und Herrschaft wurde insbesondere von Michel Foucault in den 1970ern theoretisch konzipiert. Seine machttheoretische Kon­zeption beschreibt soziale Zusammenhänge als Konfrontation und Kampf, wobei er Macht als allgegenwärtig, ubiquitär und omnipräsent beschreibt; nach Foucaults Vorstellung existieren also keine machtfreien Räume in der Gesellschaft (Kneer 2013: 268). Demnach verändert sich auch die Form der Kritik, da Macht an sich bei Foucault nicht überwunden werden kann:

„Machtbeziehungen sind tief im sozialen Nexus verwurzelt und bilden daher keine zusätzliche Struktur oberhalb der „Gesellschaft“, von deren vollständiger Beseitigung man träumen könnte.[…]Denn dass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, bedeutet keineswegs, dass die bestehenden Machtbeziehungen notwendig sind oder dass Macht inner­halb der Gesellschaft ein unabwendbares Schicksal darstellt, sondern dass es eine ständige politische Aufgabe bleibt, die Machtbeziehungen und den „Agonismus“ zwischen ihnen und der intransitiven Freiheit zu analysieren, herauszuarbeiten und in Frage zu stellen, ja dass dies sogar die eigentliche politische Aufgabe jeglicher sozialer Existenz darstellt.“ (Foucault 2005: 258f.).

Für Öcalan kommt gerade diese Art der Definition von Macht einer Kapitulation gleich und er ist sogar der Auffassung: „Wenn Einschätzungen dieser Art im Namen einer Ideolo­gie und Bewe­gung für Freiheit und Gleichheit nicht bewusst getroffen werden, so sind sie eine un­be­wusste Folge der Loyalität zum Macht-Komplex“ (vgl. Öcalan 2015: 47). Macht ist aller­dings ein soziales Verhältnis und kann auch nur in diesem Rahmen existieren, denn „Macht kann man nicht für sich allein besitzen, Macht hat man nur in Bezug auf andere Personen“ (Imbusch 2013: 13). Es ist also auch die Frage entscheidend, wer die Macht in einer Gesellschaft hat und so formuliert Öcalan:[1]

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