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Völkermord

Völkermord
Arif Rhein, Mitarbeiter von Civaka Azad

Im aktuellen Konflikt im Mittleren Osten geht es um mehr als militärische Teilerfolge oder die punktuelle Veränderung von Grenzen. Die Existenz ganzer Völker wird in Frage gestellt. Ihre Sitten, Kulturen, Werte, Sprachen, ihr Wissen und ihre Errungenschaften werden für nichtig erklärt, zerstört oder verfälscht. Diese Erfahrung macht die arabische Nation – in über 20 Nationalstaaten zerstückelt –, die in der Region omnipräsent, aber umso machtloser erscheint. Den Armenierinnen und Armeniern wurde Ende vergangenen Jahres im Konflikt um Arzach/Bergkarabach noch einmal deutlich gemacht, welche Rolle man ihnen zuspricht. Auch die kurdische Nation ist derart massiven, systematischen Angriffen ausgesetzt, dass es schwerfällt, nicht von Völkermord zu sprechen – ganz zu schweigen von den Griech*innen, Assyrer*innen, Tscherkess*innen, Las*innen und vielen weiteren Völkern, deren Farben im Mosaik des Mittleren Ostens heute nur noch schwach zu erkennen sind.
Es sind Staaten, die sich das Recht herausnehmen, über das Schicksal ganzer Völker im Mittleren Osten zu entscheiden, Völker, deren jahrtausendealte Geschichte als Fundament der Menschheitsgeschichte gilt. Die NATO – das mächtigste globale Bündnis der kapitalistischen Moderne – spielt die tragende Rolle bei der Planung und Umsetzung dieser Völkermordstrategie. Die Gesellschaften Großbritanniens, der USA, Frankreichs oder Deutschlands stehen damit in einer besonderen Verantwortung. Für sie stellt sich die drängende Frage, welche alternativen Beziehungen sie zu eben den Völkern und Gesellschaften etablieren möchten, die ihre jeweiligen Staaten zu vernichten gedenken.

Völkermord an Kurd*innen als Voraussetzung für eine Neustrukturierung des Mittleren Ostens
Protest der Jugend in Rojava gegen die permanenten Angriffe der Türkei | Foto: anhaOhne die vollständige Integration des Mittleren Ostens wird die kapitalistische Moderne ihre tiefgreifende Krise nicht überwinden können. Trotz der seit über 200 Jahren andauernden imperialistischen Interventionen ist und bleibt die Region eine Art grauer Fleck auf der Landkarte globaler kapitalistischer Hegemonie. Weder konnten die mittelöstlichen Völker sich den kapitalistischen Einflüssen vollständig entziehen, noch haben sie bereitwillig den Wertekanon des Liberalismus und die damit einhergehenden politisch-wirtschaftlichen Strukturen wie Nationalstaat, Industrialismus und Profitfetisch übernommen. Das Resultat ist eine chaotische Mischung aus selbstentfremdeter Übernahme westlich-kapitalistischer Klischees, dem Beharren auf feudal-religiösen Dogmen und der selbstbewussten Aktualisierung demokratisch-kultureller Werte. Damit konnte sich die kapitalistische Moderne nie richtig zufriedengeben. Gerade angesichts der tiefen Systemkrise pocht sie deshalb auf die vollständige Unterwerfung des Mittleren Ostens und dessen ausnahmslose Integration in den kapitalistischen Verwertungsprozess. Das System erhofft sich, dadurch die notwendige Luft zu gewinnen, die es für die Verlängerung der kapitalistischen Machtverhältnisse um einige Jahrzehnte benötigt.

Die Kurd*innen sind eines der ältesten Völker der Region. Ihre Rolle in der neolithischen Revolution, beim Entstehen der ersten sumerischen Stadtstaaten und der politisch-wirtschaftlichen Gestaltung des gesamten Mittleren Ostens ist immens. Wer die Kultur, das historische Bewusstsein und die politische Ordnung der Region zerschlagen möchte, wird den Großteil seiner Kraft auf das kurdische Volk verwenden müssen. Nur wer die seit Jahrzehnten andauernden Angriffe auf die kurdischen Errungenschaften und den daraus resultierenden Widerstand in diesem weiten historischen Kontext betrachtet, wird die globale und strategische Tragweite des aktuellen Konflikts verstehen können.

Auch #Abdullah Öcalan# spricht immer wieder sehr bewusst von einer Völkermordstrategie, die gegen die Kurd*innen eingesetzt wird. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Thema durch all seine Reden und Schriften der letzten Jahrzehnte. Die vielleicht konzentrierteste Darstellung seiner diesbezüglichen Überlegungen findet sich auf den ersten Seiten seines Buches »Die kurdische Frage und die demokratische Nation«1: »Das eigentliche Leid, das die auf grenzenlosen Profit ausgerichtete kapitalistische Moderne allen Völkern, unterdrückten und ohne Arbeit zurückgelassenen Klassen zufügt, besteht nicht in deren materieller Ausbeutung, sondern vielmehr in der vollständigen Vernichtung ihrer kulturellen Werte. Alle materiellen und ideellen kulturellen Werte, die sich außerhalb der offiziellen Kultur des Nationalstaates befinden, werden zerstört. Sonst bliebe es auch vollkommen unmöglich, die Menschheit und die natürliche Umwelt in Ressourcen zu verwandeln, die konsumiert werden können. [...] Die Situation der Kurdinnen und Kurden stellt das prägnanteste und tragischste Beispiel eines kulturellen Völkermordes dar. Die Nationalstaaten, die über das kurdische Volk herrschen, bringen dessen gesamten materiellen und ideellen kulturellen Werte mithilfe ihres einer Kreuzigung gleichenden Mechanismus zum Ächzen. Dessen Arbeitskraft und letztendlich alle gesellschaftlichen Reichtümer und natürlichen Ressourcen werden unverblümt geplündert. Was übrig bleibt, wird der Zerstörung überlassen, ohne Arbeit zurückgelassen, dem Verfaulen preisgegeben. Es wird derart verunstaltet, dass man es weder leben noch betrachten möchte. Es scheint, als würde dem kurdischen Menschen nur ein einziger Weg übriggelassen: sich im herrschenden Nationalstaat aufzulösen und die eigenen Werte vollständig aufzugeben! Kein anderer Lebensweg existiert. Von Zeit zu Zeit erreicht der kurdische Völkermord auch das Niveau eines physischen Völkermordes. Er steht vielleicht an erster Stelle der prägnantesten und tragischsten Beispiele, die das Wesen der kapitalistischen Moderne in aller Klarheit zum Ausdruck bringen.«

Diese von Abdullah Öcalan in aller Klarheit beschriebene Politik spricht dem kurdischen Volk seinen Platz in der Welt ab. Sie betrachtet kurdische Geschichte, Werte und gesellschaftliche Traditionen als Hindernisse, derer es sich zu entledigen gilt. In ihrer plumpsten Form verleugnen die Vertreter*innen dieser Politik schlichtweg die Existenz bzw. verweigern die Daseinsberechtigung des kurdischen Volkes. Die offensivsten Vertreter*innen dieser Linie tummeln sich in der deutschen und türkischen Staatsbürokratie, lassen sich aber auch in den Reihen arabischer Baath-Ideologen wie z. B. im syrischen Assad-Regime finden. Eine subtilere Völkermordstrategie besteht in dem vorrangig von Großbritannien, den USA und Israel verfolgten Ansatz, ein künstliches, liberal-verfälschtes, kraftloses »modernes« Kurdentum zu erschaffen, mit dem sich nach Belieben Politik betreiben lässt. Das Leuchtturmprojekt dieser Linie sind zweifelsfrei das politische Gebilde in Südkurdistan (Nordirak) und die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) als dessen tragende Säule. Gemein ist beiden Linien, dass sie eine sich ihrer Identität und Stärke bewusste kurdische Nation unter allen Umständen verhindern möchten, um ein entscheidendes Hindernis für die Neugestaltung des Mittleren Ostens und damit des globalen kapitalistischen Systems aus dem Weg zu räumen.

PDK, AKP und MHP: lokale Vollstreckerinnen einer internationalen Strategie
Mit den direkten, alltäglichen Angriffen auf die Existenz der Kurdinnen und Kurden werden seit 100 Jahren schwerpunktmäßig der türkische Staat und seine wechselnden Regierungen beauftragt. Die aktuelle Koalition aus AKP und MHP reiht sich als bisher letztes Glied nahtlos in die Reihe türkischer Regierungen ein, die sich gemäß der antikurdischen Tradition des türkischen Staates aktiv an der Völkermordstrategie der NATO beteiligt haben. Die seit dem Sommer 2015 von der Türkei stetig eskalierte Gewaltspirale in Kurdistan muss daher im Kontext dieser internationalen Strategie verstanden werden. Insbesondere die tonangebenden NATO-Mächte sind sich sehr bewusst, dass sie den Schein eigener Distanz zu und Kritik an den Verbrechen in Kurdistan unbedingt bewahren müssen, wollen sie sich vor massiven Protesten der eigenen Gesellschaften schützen. Entsprechend gerne verurteilen deutsche, britische, us-amerikanische oder französische Regierungsvertreter*innen in offiziellen Stellungnahmen die Politik des Erdoğan-Regimes, und auch in der Medienberichterstattung in diesen Ländern fehlt es nicht an kritischen Tönen. Doch die Taten dieser Staaten sprechen eine andere Sprache. So gehen dem AKP-MHP-Regime nie dringend benötigte Dinge wie Waffen, Geld oder politische Legitimität aus, mit deren Hilfe es die Bevölkerung vorwiegend kurdischer Regionen wie z. B. Efrîn, Serêkaniyê, Heftanîn oder Xakurke systematisch vertreibt, foltert und tötet.

Im Verlauf des vergangenen Jahres ist ein Aspekt in aller Deutlichkeit zum Vorschein gekommen, auf den Beobachter*innen in der Region schon seit Jahren hinweisen: die unrühmliche Rolle der PDK im kurdischen Völkermord. Die PDK – seit 1946 als Partei organisiert und aktuell Teil einer südkurdischen Regierungskoalition – unterhält seit ca. zehn Jahren enge Beziehungen zur Türkei, die heute die Form einer wirtschaftlichen, militärischen und politischen türkischen Besatzung weiter Teile Südkurdistans angenommen haben. Während sie bisher eher dazu tendierte, dies lautlos hinzunehmen und die eigene Parteinahme für die türkische Besatzungs- und Völkermordpolitik zu verheimlichen, hat die PDK ihre Politik im Verlauf des Jahres 2020 verändert. Sie verlegt nun massiv Truppen in Gebiete entlang der türkisch-irakischen Grenze, die seit Jahrzehnten von Guerillaeinheiten der Volksverteidigungskräfte HPG kontrolliert werden, führt mithilfe ihrer Fernsehsender Kurdistan24 und Rudaw praktisch täglich aggressive Medienkampagnen gegen die PKK durch und reagiert mit Verhaftungen auf Sympathiebekundungen der südkurdischen Bevölkerung für den Widerstand gegen die Politik der Türkei und der dahinterstehenden NATO-Strategie. Raperîn Mûnzûr, Koordinationsmitglied der PAJK (Partiya Azadiya Jin a Kurdistan – Partei der Freien Frau in Kurdistan), beschrieb die Rolle der PDK in einem Interview am 27. Dezember 2020 wie folgt: »Im Rahmen des von den internationalen Mächten und dem türkischen Faschismus betriebenen kurdischen Völkermordes und der Pläne zur Zerschlagung unserer Bewegung spielt die PDK die Rolle einer lokalen Kollaborateurin. Sie versucht, von der internationalen Konjunktur und den Kriegsverhältnissen zu profitieren, und ist dementsprechend zum Angriff übergegangen. Es ist ein grundlegendes Ziel der Feind*innen des kurdischen Volkes, die PKK in Kurdistan und dem gesamten Mittleren Osten vollständig zu zerschlagen und zu verhindern, dass die Kurdinnen und Kurden ihre Freiheit erlangen. Dabei handelt es sich um einen Plan der NATO. Es ist erkennbar, dass der türkische Staat und die PDK ein Teil dieser internationalen Politik sind, ihnen in diesem Rahmen gewisse Aufgaben zugeteilt wurden und ihnen der Weg dafür bereitet wird. Sie werden unterstützt, erhalten Genehmigungen und werden aktiv zum Handeln angetrieben. Die PDK beabsichtigt, in diesen Verhältnissen ihren Platz zu finden und sich Profite zu sichern.«2 Dabei ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die PDK das organisatorische Zentrum einer politischen Linie darstellt, die kurdischen Nationalismus, ein politisch autoritäres Staatsverständnis und wirtschaftliche Vetternwirtschaft propagiert. Welch unerträgliche Folgen das für die Bevölkerung hat, zeigte sich im Dezember vergangenen Jahres während der tagelangen schweren Proteste der südkurdischen Bevölkerung. Diese PDK-Linie organisiert sich auch über Südkurdistan hinaus, z. B. in Form des ENKS (»Kurdischen Nationalrats«) in Rojava oder als Kurdische Gemeinde Deutschland.

Organisierung gegen den Völkermord
Die Kurd*innen leisten verständlicherweise aktiven Widerstand gegen diese Vernichtungspläne. Vergleicht man ihre seit vielen Jahrzehnten andauernde Verteidigung gegen den Völkermord mit den Strategien der arabischen Nation oder des armenischen Volkes gegen ähnlich aggressive Angriffe auf deren Existenz, zeigt sich ein entscheidender Unterschied: Die kurdische Nation hat einen festen organisatorischen Rahmen aufgebaut, der es ihr erlaubt, sich effektiv und langfristig gegen den Völkermord zu behaupten. Weder der »Arabische Frühling« noch die Verteidigung der armenischen Präsenz in Arzach/Bergkarabach verfügten über diese Form der gesellschaftlichen Organisierung und sie verfehlten deshalb vorerst den Großteil ihrer Ziele. Das kurdische Volk hingegen verfügt über hunderte politische Organisationen in allen Teilen Kurdistans und in der Diaspora, die auf der Basis klarer ideologischer Überzeugungen eine selbstbewusste politische Strategie verfolgen. Diese Strategie beschränkt sich längst nicht nur auf die Abwehr der Völkermordstrategie, sondern arbeitet aktiv am Aufbau einer politisch-gesellschaftlichen Alternative. Das weltweit bekannteste Beispiel dafür sind Rojava und die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien.

Eine der zentralen Organisationen, welche die Kurd*innen für die Verteidigung ihrer Existenz als Volk und Gesellschaft aufgebaut haben, ist die PKK. In ihr bündeln sich die notwendige ideologische Weitsicht, organisatorische Stärke und politische Perspektive, derer es angesichts der massiven Angriffe der NATO, Türkei und PDK so dringend bedarf. Bese Hozat, Ko-Vorsitzende der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) und langjähriges Mitglied der PKK, beschrieb die Rolle der PKK in einem Interview mit dem Fernsehsender MedyaHaber am 2. November 2020 folgendermaßen: »Was ist die PKK? Die PKK repräsentiert die widerständige kurdische Identität. Sie repräsentiert die Kurdinnen und Kurden, die Widerstand leisten. Die PKK steht für alle Kurdinnen und Kurden, die gegen den Völkermord kämpfen. [...] Sie leistet in allen vier Teilen Kurdistans Widerstand. In Südkurdistan leistet sie Widerstand für die Würde aller Kurdinnen und Kurden. Sie kämpft für ihre Würde. Für ihre Freiheit. Sie kämpft gegen die kolonialistische und faschistische AKP-MHP-Ergenekon-Regierung, die einen Völkermord begeht.« Die massiven Angriffe auf die PKK – ob regelmäßige Medienkampagnen, Militäroperationen oder die seit über 20 Jahren andauernde Inhaftierung Abdullah Öcalans – richten sich also nicht gegen eine einzelne Organisation. Sie sind Ausdruck der Weigerung der NATO und ihrer lokalen Verbündeten, eine selbstbewusste, aus eigener Kraft heraus handelnde und kulturell gefestigte kurdische Identität anzuerkennen. Der seit Jahrzehnten andauernde politische Kampf der PKK für eben diese lässt sich nur damit erklären, dass sich ein Großteil der kurdischen Nation am Aufbau und der Fortsetzung eben dieser Organisation und ihres Kampfes beteiligt. Wie sonst wäre die PKK dazu in der Lage, sich gegen all die unerbittlichen Angriffe zu behaupten? Es ist nicht schwer vorherzusehen, dass der Widerstand der Kurd*innen gegen die Völkermordpläne auch in Zukunft andauern und immer mehr an Intensität gewinnen wird. Denn genauso wie jedes andere Volk auf der Welt sind auch kurdische Menschen nicht dazu bereit, sich zur Verleugnung ihrer Identität oder zur Übernahme liberal-verfälschter Identitätsklischees zwingen zu lassen.

Deutsche Lehren und aktuelle Verantwortung
Die deutsche Gesellschaft weiß, was Völkermord bedeutet. Sie hat es mit eigenen Augen verfolgt, sich daran beteiligt und auch Widerstand dagegen geleistet. Ihre Jugend hat in den 1960er und 70er Jahren die Aufarbeitung der Verantwortung für den Holocaust erkämpft und damit einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Schwächen der deutschen Gesellschaft und das rücksichtslose, auf globale Macht abzielende Wesen des deutschen Staates offenzulegen. Die Lehren aus dieser Auseinandersetzung prägen heute zu einem bedeutenden Teil das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft. Im Jahr 1966 warnte Theodor Adorno davor, sich den praktischen Folgen aus diesen Erkenntnissen zu verweigern: »Dass man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewusst macht, zeigt, dass das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, dass die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewusstseins- und Unbewusstseinsstand der Menschen anlangt, fortbesteht. Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, dass Auschwitz nicht sich wiederhole.«3 Er wird gute Gründe für seine eindringliche Warnung gehabt haben, hatte er den deutschen Faschismus doch selbst miterlebt und prägende Merkmale der deutschen gesellschaftlichen Identität intensiv untersucht. Als Ergebnis seiner Erfahrungen und Forschungen beschrieb er die damalige deutsche Gesellschaft als »ein Sich-Zusammenrotten von Erkalteten, die die eigene Kälte nicht ertragen, aber auch nicht sie ändern können. Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zu wenig geliebt, weil jeder zu wenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können.« Adornos damaliger eindringlicher Aufruf zum aktiven Widerstand gegen die Wiederholung der systematischen Vernichtung ganzer Völker ist und bleibt aktuell für die deutsche Gesellschaft. Denn auch heute sieht sie sich einer Allianz aus deutscher Staatsbürokratie, wirtschaftlicher Elite und militärischen Strateg*innen ausgesetzt, die Faschismus, Völkermord und Krieg direkt und indirekt planen, ermöglichen und unterstützen. Es fällt schwer, die ungebrochene deutsche Unterstützung für die türkische Diktatur und deren systematische Menschenrechtsverbrechen in Kurdistan anders zu beschreiben. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die politische Debatte darüber, syrische Geflüchtete in die von der Türkei besetzten und entvölkerten Regionen Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî abzuschieben und Millionen von Euro für den Aufbau der dafür benötigten Infrastruktur vor Ort zu zahlen. Die Unterstützung für den Widerstand der Kurd*innen, die seit Jahrzehnten von der deutschen Gesellschaft geleistet wird, hat damit eine weit größere Bedeutung, als lokale Projekte oder temporäre Kampagnen verdeutlichen mögen. Jeder Mensch, der oder die sich gegen die NATO-Strategie eines kurdischen Völkermordes und den türkischen Faschismus als ihren Handlanger stellt, hilft dem kurdischen Volk, sich noch besser für die Bewahrung seiner Kultur, Sprache, Geschichte und Werte einzusetzen. Und er bzw. sie beweist, dass die deutsche Gesellschaft den Aufruf Adornos vor 55 Jahren ernst genommen hat und nie wieder zulassen wird, dass mit ihren Ressourcen und in ihrem Namen Völkermord begangen wird.

Fußnoten:

1 - Bei dem Zitat handelt es sich um eine vorläufige Übersetzung aus dem türkischen Original (S. 35 des Buches »Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü«). Das Buch selbst befindet sich noch in der Übersetzung.

2 - https://firatnews.com/kurdIstan/-150040

3 - Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz.[1]
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